Abfahrt mit Arie

Kunst und Leben mischt die neue Theatergruppe „Oper Dynamo West“ in ihrem ersten Stück im Bahnhof Zoo

Im Bahnhof Zoo, einst quirliges Wahrzeichen und schmuddeliges Foyer der Frontstadt Westberlin, rauschen die ICEs heute nur noch durch. Statt Reisender bevölkern Penner und Punks verstärkt das Terrain. In der ehemaligen DB-Lounge sitzt eine heruntergekommene Dame im Rollstuhl, der gleichzeitig ein fahrender Zeitungsstand ist. Kaum dass sich jemand nähert, knipst sie einen herzzerreißenden Gesichtsausdruck an und bietet zitternd eine Obdachlosenzeitung zum Verkauf. Doch die Dramatik ihrer Mimik provoziert unwillkürlich die Frage: Bettelt sie noch oder spielt sie vielleicht schon Theater?

Diese Frage stellt sich in der Ex-DB-Lounge zurzeit recht oft, denn sie ist Ausgangspunkt eines Projekts der Theaterformation „Oper Dynamo West“, die der verblassenden Aura Westberlins verfallen ist und seine verödeten Orte jetzt für das Theater entdeckt. Bald wird man aus der Lounge von drei eskimohaft weiß gekleideten Damen asiatischer Herkunft abgeholt und auf verschlungenen Wegen treppauf und teppab durch den Bahnhof geführt. In einem Raum treffen wir zwei Hostessen (Annekathrin Bach und Brigitte Cuvelier), die Butterbrote schmieren und über bessere Zeiten sinnieren. Auf Gleis drei sieht man in eisiger Kälte eine schrill, aber äußerst leicht bekleidete Dame (Kirsten Burger) in Zeitlupe den Bahnsteig wischen. Man erreicht ein spärlich beleuchtetes Wartehäuschen, in dem Stimmen durcheinanderschwirren: Interviewschnipsel mit Ladeninhabern und anderweitigen Benutzern des Bahnhofs, die zwischen Realitätssinn, Ressentiments und verschrobener Poesie changieren. Spätestens jetzt sind die Grenzen, die Wirklichkeit und Spiel im Theater meist klar von einander trennen, verwischt.

Wieder unten in der Halle, sehen plötzlich alle Leute wie gecastete und von versierten Kostümbildnern typengerecht gestylte Darsteller aus. Ein junges Junkiepaar zum Beispiel, das unter einer Anzeigetafel lungert: das könnte mühelos auch in einer Schaubühneninszenierung vorkommen. Aber nein, das Paar ist wohl echt, denn die Eskimohostessen ziehen stoisch an ihnen vorüber und steuern eine miefige Schließfachallee an, in die bald ein merkwürdiger überirdisch lächelnder junger Mann (Olaf Dröge) im Rollstuhl rollt. Aus einem der größeren Schließfächer windet sich dann tatsächlich eine echte Schaubühnenschauspielerin heraus, Christina Geiße, und spielt mit Dröge ein in unbeholfene Zärtlichkeitsrituale vertieftes Paar.

Und so geht es weiter, das Spiel mit den Wahrnehmungs- und Theatergewohnheiten. Weißbekittelte Damen traktieren eine Kundin mit penetranter Serviceunlust. Zwei Säufer flüchten in ihre Ruhe gestört, weil eine Reisende plötzlich mitten in der Bahnhofshalle eine Arie zu singen beginnt. Am Ende wirkt der Bahnhof Zoo wie verwandelt, die eigenen Wahrnehmungsraster gründlich aufgemischt – mehr, als man sonst oft aus dem Theater mit nach Hause nimmt.

ESTHER SLEVOGT

„Fort_Führung“. 16.–18. 2., 19 und 21 Uhr, Bahnhof Zoo. Anmeldung unter Tel. 39 20 11 40