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: Fleisch verspeisen, Brot kauen

Vom halbwegs Realen ins vollständig Bizarre gleitet „4“, das Debüt des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky

Treffen sich eine Prostituierte (Marina Wowtschenko), ein Gammelfleisch-Händler (Juri Laguta) und ein Pianostimmer (Sergej Jurow) in einer Bar. Es ist drei Uhr nachts, es ist Winter, vor dem Fenster jaulen streunende Hunde auf den leeren Straßen einer russischen Großstadt. Die drei erzählen einander und dem Mann an der Bar – das macht vier – nichts als Lügen. Der Pianostimmer fabuliert etwas von sowjetischen Klonversuchen und Menschenexperimenten, von Inkubatoren auf dem Land und doppelten Dopplungen (das macht vier). Man betrinkt sich, die Kamera schaut beinahe unbewegt zu, das geht mehr als 20 Minuten lang so, am Ende wird der Pianostimmer sagen, er habe nichts als Blödsinn erzählt.

“4“, das Debüt des Regisseurs Ilya Khrzhanovsky nach einem Drehbuch des Skandalautors Vladimir Sorokin, beginnt mit einem faszinierenden Rätselbild. In der Nacht auf der Straße liegen vier Hunde. Im Hintergrund macht eine Maschine Lärm, in einem Schaufenster sieht man, kaum erkennbar, vier Puppen. Wie aus dem Nichts kommen vier Arme von Maschinen ins Bild, deren Metallspitzen die Straße aufzusprengen beginnen. Die Hunde rennen davon. Die Einstellung bleibt starr, man sieht nur die Arme, nicht die Maschinen. Vier Schneeräumwagen biegen um die Ecke. Nichts wird erklärt, weiß auf schwarz dann der Titel: „4“. In den nächsten Szenen werden der Gammelfleisch-Händler, der Pianostimmer und die Prostituierte eingeführt. Später entgleitet der Film zusehends ins Unbeschreibliche.

Die Prostituierte Marina bekommt einen Anruf und erfährt, dass jemand gestorben ist. Der Film folgt ihr auf ihre Reise aus der Stadt aufs Land. Ihren Mitfahrern im Zug erzählt sie Lügen. Minutenlang geht sie über verlassenes Gelände. Hunde begleiten sie, die Kamera ist längst nicht mehr starr, sondern taumelt, schwankt, schwenkt ihr hinterher, verliert sie aus dem Blick, fängt die Hunde ein, kommt ihr nah und bleibt ihr fern. Dazu ein Soundscape aus Wind und Hundejaulen, Vogelkrächzen und Industrial-Klängen. Was sich hier ereignet, ist ein Übergang. Von der Stadt aufs Land, vom halbwegs Realen ins vollständig Bizarre. Es ist, als hätte die Fabuliererei in der Bar die Wirklichkeit aus den Angeln gehoben.

Gestorben ist eine junge Frau, sie sieht auf dem Foto, das ans Grabkreuz geheftet ist, aus wie Marina. Aber neben den alten Frauen beim Begräbnis sieht man auch zwei junge: Sie gleichen der Toten, sie gleichen Marina aufs Haar. Nur sind sie blond, Marina und die Tote dunkelhaarig. Zwei plus zwei. Macht vier. Wir erfahren: Die alten, zahnlosen Frauen kauen Brot, das die Tote zu Puppengesichtern formte. Es geht fortan um die Puppenproduktion und wie sie, nach dem Tod der einen Schwester, fortgesetzt werden kann. Es wird viel getrunken, es wird Fleisch verspeist und Brot gekaut, die Kamera ist längst mittendrin, es ist, als speiste und kaute und trinke sie – und wir mit ihr.

Wer „4“ sieht, macht eine Erfahrung. Nicht über jeden Film lässt sich das sagen. Die Erfahrung ist einzigartig, aber nicht immer angenehm. Der Film erregt Ekel. Die Erfahrung ist auch nicht die der Erfüllung eines Sinns, der die Teile zum Ganzen fügte. Vielmehr gleitet man und weiß nicht wohin. Der Film hat keinen Stil, bei dem er bliebe, er hat keine Bedeutung, auf der er beharrte. Man kann versuchen, ihn als Allegorie aufs postsozialistische Russland zu verstehen; das Gammelfleisch, das manische Kauen, die Puppen als Verfallsform kapitalistischer Ökonomie. Man kommt nicht sehr weit mit solchen Interpretationen, zum Glück. Zu stark und fremd bleibt der Eigensinn dessen, was konkret zu sehen ist und zu hören. Zu sehr ist der Film – und ist sein Regisseur – versessen auf die Durchsetzung starker Form gegen das Entgleiten des Sinns und den Zerfall auch des Plots. Es ist gut möglich, dass Khrzhanovsky nicht weiß, was er tut; umso gewisser aber scheint er sich des Wie. Im Gleiten von Form zu Form, im Wechsel der ästhetischen Parameter scheint der Film sich stets neu zu finden. Es ist ein Wunder, dass das nicht einfach nur durcheinander oder prätentiös wirkt. Aber manchmal passieren im Kino solche Wunder. EKKEHARD KNÖRER

Der Film ist als russische DVD mit englischen Untertiteln zum Beispiel bei www.play.com für rund 15 £ erhältlich