„Ich habe ein Bullshit-Sensorium“

Frederick Wiseman hat für „State Legislature“ (Forum) Politiker in Idaho gefilmt – und ist von ihrer demokratischen Hingabe überrascht worden

INTERVIEW EKKEHARD KNÖRER

taz: Mr Wiseman, Sie haben in den letzten vierzig Jahren eine Serie von Institutionenporträts gedreht: Dokumentationen über das Militär und über Schulen, über Gerichte und die Psychiatrie. Die Politik hat bisher gefehlt. In „State Legislature“ geht es Ihnen nun erstmals um deren Kern, die Gesetzgebungsprozesse. Warum haben Sie sich dem Thema so spät zugewandt?

Frederick Wiseman: Natürlich ist die Gesetzgebung eine entscheidende Institution. Hier wird das Geld verteilt, an die Polizei, die Schulen, die Krankenhäuser, also all die Institutionen, um die es in meinen anderen Filmen ging. Es ist aber nicht so, dass ich da nach einer konsequenten oder logischen Reihenfolge vorgehe. Ich gehe ganz danach, worauf ich jeweils Lust habe. Das mit der Politik hab ich vorher einfach nicht probiert.

War es schwierig, Zugang zu bekommen?

Nein, das war gar nicht schwierig. Ich habe den Sprecher des Repräsentantenhauses gefragt und den Mehrheitsführer im Senat von Idaho – und sie beide meinten: kein Problem. Es wäre ja auch schwierig gewesen für sie, Nein zu sagen. Der Senat ist eine herausragende öffentliche Einrichtung, zu deren Prinzip es gehört, transparent zu sein. Die Presse berichtet ohnehin.

Aber Sie sind auch bei allen Verhandlungen und Entscheidungen in den Hinterzimmern dabei…

Ja, darauf kam es mir an. Deswegen wollte ich die Erlaubnis. Für Leute in anderen Ländern, natürlich auch für manch einen in Amerika, ist diese Transparenz ungewohnt. Mich hat das nicht erstaunt. Ich bin bei meinen anderen Filmen oft gefragt worden: Wie sind Sie da reingekommen? Meine Antwort darauf ist simpel: Ich habe einfach gefragt.

Wie kamen Sie auf Idaho?

Aus mehreren Gründen. Zum einen war es für mich von Vorteil, dass das Parlament dort nur einmal im Jahr zusammentritt, gewöhnlich für drei Monate – das heißt, ich konnte während der ganzen Periode dabei sein. Dann ist im Kapitol von Idaho alles sehr übersichtlich, alles findet auf zwei Stockwerken statt. So musste ich die Illusion nicht aufgeben, alles mitbekommen zu können, wenn ich nur schnell genug hin und her eile. Und der dritte und wichtigste Grund: Es ist ein Bürgerparlament, das heißt: Alle, die da Politik machen, haben einen anderen Hauptberuf und leben nicht in der Hauptstadt Boise. Diese Leute sind in ihren Kommunen verwurzelt.

Trotzdem haben sie als Politiker Erfahrung damit, unter Beobachtung zu stehn – auch der Beobachtung von Kameras. War das ein Problem? Sind Politiker nicht, anders als die meisten anderen der von ihnen gefilmten Personengruppen, professionelle Selbstdarsteller?

Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich das sehr unterschieden hat. Man weiß natürlich nie ganz genau, aber mit der Zeit habe ich doch ein ziemlich verlässliches Bullshit-Sensorium entwickelt. Wenn ich das Gefühl habe, die spielen mir was vor, dann höre ich auf zu drehen oder werfe die Szene spätestens im Schneideraum raus. Grundsätzlich ist meine Überzeugung, dass die meisten Leute einfach keine ausreichend guten Schauspieler sind, um eine Verstellung durchzuhalten. Ich glaube, sie verhalten sich in der Regel wirklich so, wie sie es in der Situation für angemessen halten. Wir als Beobachter können das freilich ganz anders sehen.

Ich frage auch, weil ich so beeindruckt war von den Politikern in „State Legislature“. Von dem Ernst, mit dem sie noch um vermeintliche Kleinigkeiten bemüht sind.

Ja, das ist sehr beeindruckend. Aber ich bin mir sehr sicher, dass das nichts mit der Kamera zu tun hat. Ich war ja die ganze Zeit anwesend, zwölf Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, das macht 720 Stunden. Ich habe 168 Stunden Film gedreht in den drei Monaten – also nur einen Bruchteil der Zeit gefilmt. Ich habe die Politiker auch dann beobachtet, wenn die Kamera aus war. Das machte überhaupt keinen Unterschied, derselbe Stil, dieselbe Art von Debatten. Es hat auch mich überrascht. Vor allem, wie schwer sie es sich machen mit den Entscheidungen, die sie treffen müssen. Ich stimme mit vielen ihrer Ansichten und auch mit vielen der Entscheidungen nicht überein, aber ihre Haltung, diese Hingabe an den Prozess der Entscheidungsfindung – das war erstaunlich. Und wie gesagt, das Ergebnis mag einem nicht gefallen, aber in der Regel sind in allen Debatten letztendlich die unterschiedlichen Positionen vertreten und werden diskutiert.

Haben Sie tatsächlich in der ganzen Zeit nie ein Fehlverhalten beobachtet?

Nein, das sind im Großen und Ganzen alles anständige Leute.

Sie waren drei Monate in Idaho. Und wie lange danach im Schnitt?

Bei „State Legislature“ habe ich den Schnitt für andere Projekte immer wieder unterbrochen. Alles in allem hat es etwa vierzehn Monate gedauert.

Kurz dazwischengefragt: Welche anderen Projekte?

Oh, unter anderem habe ich in Paris an der Comédie-Française Becketts „Glückliche Tage“ inszeniert – ich gebe darin auch mein spätes Debüt als Schauspieler, in der Rolle des Willi.

Haben Sie beim Drehen schon eine Vorstellung von der Struktur oder der Länge des Films?

Nein, überhaupt nicht, das kommt alles erst beim Schneiden. Ich sehe mir dafür alles einmal an und mache eine Liste, wie im Guide Michelin, mit einer Sternewertung für die einzelnen Sequenzen. Weil ich weiß, dass das ein langer, oft langweiliger, manchmal natürlich auch aufregender Prozess wird, schneide ich zuerst die Sequenzen, die ich am liebsten mag. Im Verlauf von sieben oder acht Monaten schneide ich dann alle Sequenzen, von denen ich glaube, dass sie im fertigen Film auftauchen könnten – noch ohne Gedanken an die Struktur. Und dann habe ich Ideen wie: Das kommt an den Schluss und dann müsste der Beginn so funktionieren. Irgendwann mache ich an drei, vier Tagen einen ersten Rohschnitt. Danach geht es um die Struktur, das heißt um Prozesse der Auswahl und der Verdichtung – und am Ende werden Fragen des Rhythmus wichtig.

Dann liege ich nicht falsch, wenn ich Ihre Filme in starkem Maße als komponiert empfinde?

Nein, gar nicht. Das freut mich sogar sehr. Ich gebe mir immer extrem viel Mühe mit der Struktur, suche lange nach dem richtigen Rhythmus für den Film.

„State Legislature“, Regie: Frederick Wiseman. USA 2007, 217 Min., heute, 16.30 Uhr, Delphi Filmpalast