„Hartz IV ist der falsche Weg“

Der Grünen-Sozialpolitiker Markus Kurth über die Inkaufnahme von Dumpinglöhnen, die Macht der Florida-Rolf-Debatte und die Angst vor dem Bruch mit den Sozialdemokraten

taz: Herr Kurth, die Grünen räumen ein, bei Hartz IV bestünde Korrekturbedarf. Trotzdem will die Parteispitze an der Reform festhalten. Ist das richtig?

Markus Kurth: Nein. Hartz IV ist der falsche Weg, die bloße Weiterentwicklung kann nicht unser Ziel sein. Wir brauchen einen emanzipatorischen Ansatz: eine Grundsicherung, und zwar ohne Repression.

Auch Hartz IV ist als Grundsicherung verkauft worden. Was müsste anders werden?

Im Moment gilt: Die Betroffenen müssen um jeden Preis Erwerbsarbeit leisten und werden unter Druck gesetzt. Stattdessen müsste beispielsweise auch ehrenamtliche Arbeit möglich sein.

Trotzdem haben die Grünen für Hartz IV in seiner jetzigen Form gestimmt. Ein Fehler?

Wir waren vielleicht zu optimistisch. Rückblickend muss man sagen, dass diejenigen Kräfte, die „Arbeit um jeden Preis“ vorantreiben wollten, stärker waren als die Gegenkräfte.

Die Parteispitze klagt, man habe nicht vorhergesehen, dass immer mehr Menschen ihr Gehalt mit Hartz IV aufstocken, weil die Löhne unter Druck geraten sind. Haben die Grünen sich nicht beraten lassen?

Doch, ich selbst habe von Anfang an darauf hingewiesen. Es war aber zum Beispiel von Ex-Arbeitsminister Wolfgang Clement ein erklärtes Ziel, mit Hartz IV Druck auf die Löhne auszuüben. Wir Grüne habe das zwar nicht forciert, aber doch billigend in Kauf genommen.

Warum hat die Partei nicht auf Sie gehört?

Die Parteispitze musste damals das ganze Vorhaben im Blick haben. Das Problem wurde erkannt, aber grob unterschätzt.

Jetzt fordert die Partei einen Mindestlohn. Wieso erst jetzt?

Das gesellschaftliche Klima damals, 2003, war ja ziemlich ätzend: Arbeitslose wurden diffamiert, es war das Jahr der Florida-Rolf-Diskussion. In diesem Klima hätte es doch einer sehr großen Dickfelligkeit bedurft, um dem zu widerstehen und so etwas wie soziale Bürgerrechte einzufordern. Diese Dickfelligkeit, verbunden mit der Bereitschaft, notfalls die Koalition zu gefährden, gab es nicht.

Klingt opportunistisch.

Opportunistisch würde ich nicht sagen. Wir hatten große Hoffnungen in das „Fördern“ gesetzt und dass die Reform steuerbar ist. Wir haben ja auch 6,5 Milliarden Euro für das Fördern bereitgestellt. Dass dieses Geld bisher nur zur Hälfte ausgegeben wird und dann auch noch für 1-Euro-Jobs – das sind Entwicklungen, die man als Parlament schwer steuern kann.

Die Hartz-IV-Details wurden vom Bundestag abgesegnet.

Unterschätzen Sie die Rolle der Durchführenden nicht!

Auch erst heute trauen sich die Grünen, laut zu kritisieren, der Regelbedarf sei zu niedrig.

Bei der Höhe des Regelsatzes gab es von Anfang an harte Debatten bei uns. Das ist an der SPD gescheitert. Der Regelsatz wurde völlig intransparent, ohne Beteiligung durch die Wohlfahrtsverbände, festgelegt. Uns war klar, dass die Höhe unzulänglich war.

Heute sagen die Grünen, sie hätten von Anfang an Nachbesserungen im Blick gehabt. Wie realistisch wären die gewesen, wenn sie sich schon 2003 nicht durchsetzen konnten?

Im dem Maße, wie sich die Schwierigkeiten der Reform gezeigt hätten, wären unsere Durchsetzungschancen gestiegen. Das gesellschaftliche Klima hat sich geändert. Arbeitslose können nicht mehr so ohne Weiteres als Faulenzer bezeichnet werden.INTERVIEW: KATHARINA KOUFEN