Punkt, Punkt, Komma, Strich

Mit „Journey to the Moon“ im Hamburger Bahnhof Berlin zeigt der südafrikanische Künstler William Kentridge eine so komplexe wie elegante Hommage an den Stummfilmpionier Georges Méliès

Das Zeichnen ist für William Kentridge die Mutter aller Künste:die direkteste Umformulierungeiner Idee in ein Bild

VON MARCUS WOELLER

Auf der Berlinale widmet sich die diesjährige Retrospektive dem Stummfilm. „City Girls“ ehrt das neue Frauenbild der Zehner- und Zwanzigerjahre, als sich das Medium etabliert hatte und sich nun auch inhaltlich positionieren konnte. Um die Jahrhundertwende waren die Filmemacher dagegen noch auf der Suche, das auf Zelluloid gebannte bewegte Bild irgendwo zwischen Theater, Varieté und bildender Kunst zu verorten. Ein Klassiker dieser Zeit war der französische Regisseur Georges Méliès. Er experimentierte mit allerlei Hokuspokus und drehte allein im Jahr 1897 knapp achtzig Filme, die nebenbei auch die Kamera- und Schnitttechnik revolutionierten. Mehrfachbelichtungen, Stop-Motion, Animationen und Auflösungen stellten für den Autodidakten keine Schwierigkeit dar. Kein Wunder, dass Méliès auch den allerersten Science-Fiction-Film drehte: „Le voyage dans la lune“ von 1902 nach einer Romanvorlage von Jules Verne.

William Kentridges Arbeit „Journey to the Moon“, „7 Fragments for Georges Méliès“, „Day for Night“ ist nicht nur eine Hommage an den Filmemacher, sondern vor allem eine Verbeugung vor dem Künstler als virtuoses Genie. Das Zeichnen ist für Kentridge die Mutter aller Künste, schließlich ist sie die Grundlage jedes Bilds, jedes Films, jeder Installation – es ist die erste und direkteste Umformulierung einer Idee in ein Bild. Der südafrikanische Künstler hat sich über die Jahre einen sehr ausgefeilten, charakteristischen Zeichenstil angeeignet. Er bevorzugt den schnellen, skizzierenden Strich mit Kohle. Dabei arbeitet er additiv und gleichzeitig subtraktiv, wenn er großflächig radiert und verwischt. Diese Arbeitsschritte hält Kentridge mit der Kamera fest. Mit verschiedenen technischen Tricks, die der Arbeitsweise der Stummfilmer ähnlich sind, animiert er die Aufnahmen zu Reflexionen über das Zeichnen an sich. Schnitte und Überblendungen kombinieren einzelne Skizzen zu Collagen.

In „7 Fragments“ filmt Kentridge sich beim Zeichnen, beim Malen mit Tusche, beim Verspritzen von Kaffee auf weißem Papier. In kurzen Performances verwandelt er sich in sein Selbstporträt, kostet die humorvolle Eleganz der Rückwärtsprojektion voll aus, zerstört seine eigenen Bilder in dem Wissen, dass er sie filmisch wieder nahtlos reparieren kann. Nicht uneitel stellt er sich dabei ins Zentrum seiner poetischen Choreografie über die Kunstproduktion – und wird zum Alter Ego Georges Méliès’.

Kentridge ist aber auch Surrealist. Während einer Ameisenplage in seinem Wohnort Johannesburg machte er die Insekten zu Komplizen einer écriture automatique. Nicht nur dass sie in ihrem massenhaften Auftreten wie schwarze Farbspritzer wirken, wenn sie dicht gedrängt auf einem Sirupfleck sitzen. Die Ameisen verwandeln sich dank ihres militärischen Gehorsams selbst in lebendige Linien. Tagelang hat Kentridge ihre Spuren mit Video abgefilmt. Er hat ihnen mit Zuckerwasser die Marschrichtung diktiert und sie über einen Parcours aus Marmeladenresten wuseln lassen. Im Kontrast des Umkehrfilms aufgenommen und digital verfremdet werden sie zu einer flirrenden Abstraktion sich bewegender Bildpunkte und verformender Linien. Ein dynamischer Sternenhimmel für den Hauptfilm „Journey to the Moon“.

„Eine wie ein Projektil geformte Rakete schlägt auf die Mondoberfläche ein, eine dicke Zigarre, die in ein rundes Gesicht gesteckt wird. Als ich den Film das erste Mal sah, fiel mir auf, dass ich dieses Bild kannte“, erklärt Kentridge. Tatsächlich gehört das Bild des ärgerlich blickenden Mondgesichts mit dem Raketenstumpf im Auge zum kollektiven Bildgedächtnis. Es bildet den Ausgangspunkt von Kentridges freier Assoziation über Méliès’ Film. Mit der Ausstattung seines Frühstückstischs verkürzt er den Weltraumflug auf einige Filmsekunden: Die Espressokanne wird zur Rakete, Espressotassen zum Fernrohr. Eine Untertasse verwandelt sich in den Mond. Immer wieder erscheinen Kritzeleien auf den Seiten eines Lexikons. Zeichnungen fliegen wie von Geisterhand bewegt durchs Atelier. Und die Ameisen ziehen ihre Bahnen.

Die Sammlung Marx hat die Arbeit kürzlich erworben und stellt sie nun im Hamburger Bahnhof in Berlin aus. Im Jahr 2005 wurde sie auf der Biennale in Venedig gezeigt. Ganz im Unterschied zu dem vor zwei Jahren im Deutschen Guggenheim gezeigten Projekt „Black Box“ fehlt hier der sonst typische politische Anspruch des Künstlers. Nur im Eingangsbereich der Ausstellung, bevor man in den dunklen Projektionsraum tritt, mahnt eine großformatige Zeichnung. Eine Taube steckt in einer Schraubzwinge. Das lässt vermuten, dass sich Kentridge nicht auf die nur schönen Künste zurückziehen wird.

William Kentridge: „Journey to the Moon“ Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin. Noch bis zum 6. Mai 2007