Auf dem Rummelplatz

Die diesjährige Berlinale ist zu Ende. Der Goldene Bär ging an „Tuyas Ehe“ von Wang Quan’an. Eine gute Entscheidung. Doch möchte man Festivalleiter Dieter Kosslick für das nächste Jahr zurufen: Mehr Mut! Mehr Leidenschaft! Mehr Liebe zum Kino!

VON CRISTINA NORD

Die schönste Pointe der eben zu Ende gegangenen Berlinale erlebte ich nicht im Kino, sondern in einem Shuttle-Bus, der vom Potsdamer Platz zum Martin-Gropius-Bau fuhr. Auf dem Beifahrersitz nahm ein älterer beleibter Herr Platz. Er unterhielt sich mit dem Fahrer in einem Deutsch, das einen markanten, wenn auch nicht zu verortenden Akzent hatte. Er grantelte: „Berlin ist so teuer.“ Als der Chauffeur widersprechen wollte – „Nein, nein, ich lebe seit 20 Jahren hier, und …“ –, schnitt ihm der ältere Herr das Wort ab. „Ich lebe auch seit 20 Jahren hier!“ Für den Filmmarkt, so der Herr weiter, reichten vier Tage. „Was wird hier denn schon groß verkauft?“ Bevor der Wagen vor der Treppe zum Gropius-Bau hielt, sagte er noch: „Früher, bis 2000, 2001, war die Berlinale ein aufregendes Festival. Seither geht es bergab.“ Der ältere Herr war niemand anderer als Moritz de Hadeln, Leiter der Filmfestspiele bis zum Jahr 2001.

Ob Dieter Kosslick, der Mann, der de Hadeln im Mai 2001 ablöste, auch einmal grantelnd in einem Shuttle-Bus sitzen wird? Sicher nicht, das Granteln widerspricht Kosslicks Art. Kennzeichnend für ihn ist vielmehr die aufgekratzte Fröhlichkeit, mit der er jedweder Kritik begegnet. Die Auswahl der Wettbewerbsfilme lässt seit Jahren zu wünschen übrig? Macht nichts, Dieter Kosslick erfindet ein neues Ereignis – in diesem Jahr etwa die Sonderreihe Kulinarisches Kino –, und schon brummt die Berlinale. Diese Methode verwandelt das Festival in einen Rummelplatz – nicht die schlechteste Wahl, denkt man an die Herkunft des Kinos aus der Jahrmarktbude.

Legt man andere Maßstäbe an – soll die Berlinale, eines der weltweit wichtigsten Filmfestivals, nicht auch etwas über die Möglichkeiten, die Schönheit, die Vielfalt des gegenwärtigen Kinos vermitteln? –, wird es schwierig. Denn für die Filme bleibt bei Kosslicks Methode nur nachgeordnete Aufmerksamkeit. Anders gesagt: Allzu oft wird der Attraktionswert höher verbucht als der filmische Wert. In diesem Jahr passierte dies zum Beispiel, als man für Jennifer Lopez’ Anwesenheit auf dem roten Teppich Gregory Navas Machwerk „Bordertown“ in Kauf nahm. Eine doppelte Illusion: Denn erstens ist Jennifer Lopez kein Star vom Format einer Rita Hayworth, sondern eine Prominente mit korrigierter Nase und beschränktem darstellerischem Vermögen. Und zweitens mag sich Navas Film über die Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Juárez zwar mit den besten Absichten schmücken, doch haben beste Absichten noch nie geholfen, aus einem politisch brisanten Sujet einen guten Film zu machen. Bei Nava funktioniert dies nur dort, wo der Film Anleihen beim Horrorgenre trifft. Damit freilich werden die Reiz-Reaktions-Schemata des C-Movies bedient, und ob man die im Wettbewerb eines A-Festivals haben möchte, sollte man sich gut überlegen. Vor allem dann, wenn man die realen Mütter real ermordeter Frauen zur Galapremiere einlädt.

Kosslicks Berlinale-Mix – ein bisschen Hollywood, ein bisschen politisches Bewusstsein, ein bisschen Weltkino und drei, vier Beiträge bewährter europäischer Autorenfilmer – reicht eben nicht, wenn 22 Filme um den Goldenen Bären konkurrieren. Er reicht schon gar nicht, wenn man sich die Festivals von Cannes oder Venedig zum Maßstab nimmt. Was etwa Marco Müller im vergangenen September auf dem Lido präsentierte, ließ so viel Wissen, Liebe und Leidenschaft in Sachen Kino erkennen, dass man in Berlin nur neidisch werden kann. Umso unverständlicher erschien die diesjährige Wettbewerbsauswahl, als in den Nebenreihen, im Forum und im Panorama, durchaus geeignete Filme vertreten waren. Pascale Ferrans „Lady Chatterley“, Hong Sang-Soos „Woman on the Beach“, Yoji Yamadas „Love and Honor“, auch Angela Schanelecs „Nachmittag“ – Filme, mit denen das Festival ästhetischen Wagemut hätte beweisen können, hätte es durchaus gegeben. Sie hätten sicherlich nicht jedem Kinobesucher Vergnügen bereitet, doch streitbare Entscheidungen sind allemal besse,r als Belanglosigkeiten wie Ryan Eslingers „When a Man Falls in the Forest“ zu favorisieren.

Die siebenköpfige Jury unter Vorsitz von Paul Schrader dürfte es also nicht leicht gehabt haben, ihre Entscheidungen zu treffen. Eines ist ihr in jedem Fall anzurechnen: Sie hat das Naheliegende vermieden. Keinen Preis gab es für das zwar viel gelobte, aber kreuzbrave Feelgoodmovie „Irina Palm“ von Sam Garbarski, das seine Pointen so billig ersteht wie die Nebenfiguren, die Männer im Sexclub, den hand job. Marianne Faithful, die in „Irina Palm“ die Rentnerin gibt, die sich durch ebendiese hand jobs vom Mief der Vorstadt emanzipiert, wurde nicht ausgezeichnet, und auch Marion Cotillard, die Darstellerin der Edith Piaf in „La Vie en Rose“, ging leer aus, obwohl die Maskenbildnerin sich alle erdenkliche Mühe gab, aus der hübschen Schauspielerin ein Wrack mit schütterem Haar und tiefen Falten zu machen.

Wenn solche Verwandlungen mit Preisen belohnt werden, hat dies oft etwas Heuchlerisches. Denn es setzt voraus, dass es besondere Überwindung koste, eine Sexarbeiterin oder eine kranke, kaputte Frau zu spielen. Dabei wird das vordergründige Motiv – im ersten Fall eine liberale Position, die Sexarbeit akzeptiert und einer älteren Frau selbstverständlich Attraktivität und ein Recht auf Sexualität zubilligt, im zweiten Fall die Anerkennung von Krankheit und Alter – hinterrücks entwertet.

Zum Glück war die Jury klüger. Dass der Goldene Bär an einen Film aus der nordwestlichen Mongolei ging, an „Tuyas Ehe“ von Wang Quan’an, ist eine akzeptable Entscheidung. Der Regisseur nutzt die Weite und Leere der Steppenlandschaft für eine interessante Kontrastierung. Vor dem staubigen Hintergrund, zwischen Schafherde, Kamel und Brunnenbau, verhandelt „Tuyas Ehe“ einen zutiefst melodramatischen Konflikt: Was vermag die Liebe, was vermag das Geld? Was geschieht, wenn die Lebensbedingungen sich so gestalten, dass die Liebe alleine nicht weiterhilft? Wenn man Gefühle gegen Materielles eintauschen muss? Für das China der Gegenwart sind dies offenbar relevante Fragen, denn auch ein zweiter, nicht mit Preisen bedachter Film ging ihnen nach: „Ping guo“ („Lost in Beijing“) von der jungen Regisseurin Li Yu.

Auf den ersten Blick haben „Tuyas Ehe“ und „Lost in Beijing“ nicht viel gemein; dieser spielt in der Großstadt, jener auf dem Land; dieser arbeitet mit einer hektischen Kamera, jener mit ruhigen Bildern; dieser gibt sich eine hypermoderne Anmutung, jener einen archaischen Touch. Doch in beiden Filmen suchen die Figuren nach einem Weg, ihre emotionalen mit ihren materiellen Interessen zu versöhnen. In beiden Filmen scheitern sie, denn die Gesetze des Melodrams lassen Versöhnung nicht zu – und vielleicht gilt dasselbe für die chinesische Gegenwart.

Eine Entscheidung der Jury lässt sich als Zugeständnis an die politische Positionierung des Festivals begreifen. Den Silbernen Bären für die beste Regie erhält der israelische Filmemacher Joseph Cedar. In dessen Film „Beaufort“ geht es um eine israelische Militäreinheit im Jahr 2000, die einen Stützpunkt im Libanon verteidigt. Die Männer agieren auf verlorenem Posten, das wird teils in eindrücklichen Sequenzen, teils in allzu wortreichen Dialogen deutlich. Am Ende fliegt der Stützpunkt in hübsch majestätischen Explosionsbildern in die Luft. Wer es bis dato noch nicht wusste, ahnt es spätestens jetzt: Militärische Stärke ist kein Mittel, Konflikte nachhaltig zu lösen.

Ein echter Grund zur Freude ist der Silberne Bär, den Nina Hoss für ihre Rolle in Christian Petzolds Film „Yella“ entgegennahm – nicht nur, weil damit die subtile Leistung der Schauspielerin geehrt wird, sondern auch, weil sich Petzold mit den Konfliktlagen der Gegenwart befasst, ohne sich mit vordergründigen filmischen Lösungen zufrieden zu geben. So gelingt es ihm, das Siechtum ostdeutscher Städte, Arbeitslosigkeit und die Kapriolen des avancierten Kapitalismus zu verhandeln. Je mehr Understatement er sich, seiner mise en scène und seinen Darstellern abverlangt, umso mehr genießt man in „Yella“ ein in diesem Berlinale-Wettbewerb rares Erlebnis: Man sieht einen Film, der mit der Intelligenz des Zuschauers arbeitet, nicht gegen sie.