Die Polizei schaute zu

AUS ERBIL INGA ROGG

Der Überfall war selbst für irakische Verhältnisse von beispielloser Ruchlosigkeit. In mehreren Pick-ups fuhren gestern Uniformierte vor dem staatlichen Forschungszentrum in Bagdad vor und entführten Dutzende von Angestellten. Der Minister für Höhere Bildung Abd Dhiab, ein Sunnit, verurteilte die Tat als terroristischen Akt. Wie viele Personen entführt wurden, war zunächst unklar. Mehr als 100 Angestellte und Besucher seien verschleppt worden, sagte Dhiab. Der Leiter des Bildungsausschusses des Parlaments sprach von bis zu 150 Entführungsopfern. Sollten sich die Angaben bestätigen, wäre es die größte Massenverschleppung seit dem Sturz des Saddam-Regimes 2005.

Die Tat war offenbar von langer Hand geplant. Ein Augenzeuge gab an, dass er fast 40 Fahrzeuge in den typischen weiß-blauen Farben der Sicherheitskräfte gezählt habe. Angesichts der Übermacht leisteten die vier Wachen vor der Forschungseinrichtung keinen Widerstand. Eine nahe Polizeipatrouille griff ebenfalls nicht ein. Das hat den Verdacht genährt, dass es sich bei den Uniformierten Tätern um Mitglieder von schiitischen Milizen handelt, die den gesamten Sicherheitsapparat infiltriert haben. In die gleiche Richtung wies auch Dhiab, indem er angab, die Täter seien in Richtung der schiitischen Quartierte im Nordosten der Hauptstadt abgefahren.

Der Überfall dauerte laut Dhiab keine 15 Minuten. Zuerst hätten die Bewaffneten den anwesenden Frauen die Handys abgenommen und sie alle in einen Raum gesperrt. Dann hätten sie alle Männer unter Waffengewalt abgeführt und seien davongefahren. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters gab indes ein Augenzeuge an, dass ausschließlich Sunniten Opfer der Verschleppung geworden seien. „Auf dem Parkplatz kontrollierten sie die Ausweise und nahmen nur sunnitische Angestellte mit“, sagte der Mann, der namentlich nicht genannt werden wollte. „Ich habe zwei Polizeipatrouillen gesehen, die tatenlos zuschauten.“

Konfessionell motivierte Entführungen sind in Bagdad und Umgebung beinahe alltäglich. Vor einigen Monaten überfielen Bewaffnete, die vorgaben, im Auftrag des Innenministeriums zu handeln, eine private Sicherheitsfirma und verschleppten 50 Mitarbeiter – allesamt Sunniten. Unlängst wurden nördlich von Bagdad mehr als 30 schiitische Arbeiter entführt, als sie ihr Werksgelände nahe einer amerikanischen Basis verließen. Häufig stehen hinter den Entführungen freilich weniger politische Motive, sondern vor allem finanzielle.

Da jedes Ministerium im Irak den verschiedenen Fraktionen als Selbstbedienungsladen dient, ist freilich eine Racheaktion nicht ausgeschlossen. Zumal Ministerpräsident Maliki eine größere Umbildung der Regierung angekündigt hat. Von Seiten der Regierung versuchte man gestern indes, den Verdacht auf einen politischen oder konfessionellen Hintergrund für die Tat zu zerstreuen. Sowohl Dhiab als auch der Leiter des parlamentarischen Bildungsausschusses, der Schiit Alaa Makki, sagten, unter den Entführungsopfern seien Sunniten und Schiiten. Laut Makki gaben sich die Täter als Einheit der Antikorruptionskommission aus. Die Verschleppung sei eine nationale Katastrophe, sagte Makki. Das Parlament unterbrach daraufhin seine Sitzung. Eine sofort eingeleitete Großrazzia blieb bis zum Abend jedoch erfolglos.