berliner szenen Der Krach vor dem Krach

Lauter singen

Die hohen Decken, der Stuck: Ich könnte mir nicht vorstellen, anderswo als in einer Altbauwohnung zu wohnen. Allerdings sind die Wände dünn. Ich bekomme jeden Streit meiner Nachbarn mit. Manchmal bin ich auf seiner Seite, manchmal auf ihrer und manchmal auf Seite der Kinder. Zudem verläuft die Schönhauser Allee direkt vorm Fenster, und die ist auch nicht gerade leise.

Neulich dachte ich, dass ich all diesem Lärm einmal etwas Eigenes entgegensetzen möchte: Singen. Und zwar nicht nur unter der Dusche. Singen soll ja glücklich machen. Es stimuliert das Zwerchfell, und mit einem stimulierten Zwerchfell ist man immer glücklich. Opernsänger sollen die bestgelaunten Menschen dieser Welt sein. Sie lassen sich von Krach bestimmt nicht aus der Ruhe bringen.

Ich stellte also vorgestern Mittag eine Arie an und sang aus Leibeskräften mit. Nicht schön musste es sein, war mein Motto, sondern laut. Das Zwerchfell sollte so richtig hüpfen. Ich hatte noch keine dreißig Sekunden gesungen, da schallte aus der Nachbarwohnung laute Rockmusik. So laut, dass man gar nicht erkennen konnte, welche Gruppe da den Bass so malträtierte. Ich hörte auf zu singen, stellte die Arie leiser und lauschte. Nebenan wurde die Musik ebenfalls leiser gestellt. Ich drehte meine Anlage wieder auf und sang so hoch ich konnte. Nebenan wurde die Musik ebenfalls wieder aufgedreht. Ich stellte meine Musik aus und lauschte. Nebenan ebenfalls Stille. Dieses Spiel, schien mir, hätten wir ewig so weiterspielen können. Offenbar versuchte die Nachbarfamilie mir etwas mitzuteilen. Ich kann mir nur nicht denken, was. Dass sie meinen Gesang nicht mögen, kann ich mir kaum vorstellen. Zumindest werden sie doch so von sich selbst abgelenkt. SANDRA NIERMEYER