Leiden auf hohem Niveau

Das Gorki-Theater versetzt das Drama „Gegen die Wand“ ins Milieu der freundlichen und überforderten Mitte-Menschen, die sich irgendwann nur noch umbringen wollen

Huhn findet karge Bilder für den Konsumterrorismus der Übersättigten

Die Bühne ist leer. Nur ganz vorne liegen auf einem Schotterhaufen zusammengerollt ein Mann und eine Frau in Unterwäsche. Aus zwei Boxen dröhnt ein penetranter, herzschlaghafter Beat. Der Mann (Peter Moltzen) springt auf, gräbt hektisch aus dem Schotter eine Eisenstange aus und schlägt damit die lärmende Box in Stücke. Doch die Ruhe danach dauert nur einen Moment. Dann wummert es weiter. Nun springt die Frau (Anika Baumann) auf und zerstört die zweite Box. Natürlich auch diesmal vergebens. Der nicht abzustellende quälende Herzschlag treibt auch sie bald wieder an – und zwar, wie sich schnell zeigt, in die sinnlosen Exzesse eines zwanghaften Hedonismus, dem das Paar gerade noch durch Selbstmord zu entkommen versucht hat.

Denn so weit folgen der Autor der Theaterfassung Armin Petras und der Regisseur Matthias Huhn ihrer Vorlage „Gegen die Wand“, dem berühmten Film von Fatih Akin. Auch dieser beginnt mit der Begegnung von Cahit und Sibel nach einem gescheiterten Selbstmord in der Psychiatrie. Sibel wollte sterben, um der erstickenden Enge ihres türkischen Elternhauses zu entkommen, Cahit, um seinem Lebensekel final zu begegnen. Dann hat Sibel die Idee, Cahit zu heiraten, um unter dem Deckmantel der Ehe ein freies Leben zu führen. „Ich will leben! Ich will tanzen! Ich will ficken!“, sagt sie. „Und nicht nur mit einem Typen!“

Petras/Huhn übernehmen die drastischen Kernsätze aus dem Film und sein Handlungsskelett. Komplett gestrichen ist allerdings der türkische Hintergrund der Figuren, die hier nur noch m und s heißen. Anika Baumann und Peter Moltzen spielen eher freundliche Mitte-Bohemiens, und als Zuschauer muss man sich zunächst damit abfinden, dass diesem Abend die existenzielle Wucht völlig abgeht, mit der Fatih Akins Figuren die Freiheitsfrage stellen und damit ihr Leben buchstäblich gegen die Wand fahren. Akins steile Sentenzen klingen aus den Mündern dieser sehr bürgerlich aus ihren erfahrungshungrigen Körpern herausblickenden Figuren immer etwas aufgesetzt und unglaubwürdig. Besonders Anika Baumanns s wirkt eher wie eine höhere Tochter auf Abwegen.

Aber bald beginnt man dann dieser Sicht auf Stoff und Figuren etwas abzugewinnen, weil man begreift, dass hier der Spieß umgedreht wird. Das Paar in Matthias Huhns Inszenierung hat alles, wonach Fatih Akins Figuren schreien. Nichts schnürt ihnen die Luft ab, höchstens ihre Unfähigkeit, mit der Freiheit umzugehen. Ihre Exzesse wirken deshalb seltsam hohl. Vorsichtig zerlegt Regisseur Matthias Huhn den Lebenshunger dieser Übersättigten in seine selbstzerstörerischen, konsumterroristischen Elemente und findet dafür karge Bilder. Statt simuliertem Bühnensex liefern sich m und seine laszive Gelegenheitsgeliebte a (Anne Ratte-Polle) eine Bierschlacht, begießen sich mit Bierschaum und sehen danach wie begossene Pudel aus. Statt ihn zu zeigen, lässt Huhn a den in letzter Minute verhinderten Liebesakt von s und m („wenn wir es tun, sind wir wirklich Mann und Frau“) wortgewaltig ausmalen und s und m der Beschreibung gierig folgen.

Doch Huhns Reduktionismus geht nicht immer auf. Besonders am Ende hat die Schlüssigkeit der Geschichte Löcher. Trotzdem überzeugt der Abend in weiten Teilen durch die Bescheidenheit, mit der er diesen melodramatischen Stoff abspeckt und auf eine großstädtische Boheme überträgt. ESTHER SLEVOGT

Wieder im Studio des Gorki-Theaters am 24. 2., 1./9./15./23. 3.