„Mancher Kranke wartet zwei Monate“

Judith Storf arbeitet seit 13 Jahren als unabhängige Patientenberaterin. Sie bemerkt, dass Kassenpatienten immer häufiger schon am Telefon in den Arztpraxen abgewimmelt werden. Eine AOK-Umfrage bestätigt, dass sich besonders Fachärzte zieren

INTERVIEW COSIMA SCHMITT

taz: Frau Storf, laut einer neuen AOK-Studie müssen Kassenpatienten oft länger auf einen Arzttermin warten als privat Versicherte. Überrascht Sie das?

Judith Storf: Nein, gar nicht. Das Problem ist nicht nur vorhanden, es hat in den letzten Jahren sogar zugenommen. Viel häufiger als früher lassen Ärzte ihr Personal schon am Telefon nachfragen, ob der Anrufer gesetzlich oder privat versichert ist. Bei Kassenpatienten heißt es dann oft: Tut mir leid, wir sind in den nächsten Wochen völlig ausgebucht.

Laut Studie gehen die Arztgruppen bei der Terminvergabe unterschiedlich vor. Beim Allgemeinmediziner oder Internisten müssen sich Kassenpatienten nicht so lange gedulden wie beim Facharzt. Bei Orthopäden darf fast jeder zweite Privatversicherte mit Schmerzen sogleich vorbeikommen – aber nur jeder vierte Kassenpatient.

So etwas habe ich dutzendfach erlebt. Die Menschen rufen etwa mit Schmerzen im Knie an. Der privat Versicherte darf gleich am nächsten Tag in die Praxis kommen. Mancher Kassenpatient aber muss bis zu zwei Monate auf einen Termin warten. Und manchmal setzt sich die Ungleichbehandlung vor Ort fort.

Neulich berichtete mir ein Mann, dass er gerade am Empfang einen Termin vereinbaren wollte, als der Orthopäde über den Flur rief: „Ist der Mann gesetzlich oder privat versichert?“ Als der Arzt erfuhr, dass dort ein Kassenpatient steht, sagte er seiner Sprechstundenhilfe: „Der braucht gar nicht wiederzukommen.“ Aber das ist natürlich ein Extremfall.

Gemäß der Untersuchung müssen gerade ältere Kassenversicherte deutlich länger auf eine Behandlung warten als der Privatpatient. Wie erklären Sie sich diese Kluft?

Dieses Ergebnis deckt sich mit dem, was mir Patienten berichten: Je aufwändiger Diagnose und Therapie sind, desto schwerer erhalten sie einen Termin. Und in dieser Patientengruppe finden sich nun einmal besonders viele Alte und chronisch Kranke. Die Behandlung dieser Menschen ist oft sehr zeitaufwändig. Da zieht manch ein Arzt den jungen, nur leicht erkrankten Patienten vor.

Sehen Sie die Situation nicht zu schwarz? Immerhin gibt es auch Studien, die belegen, dass das Gros der Patienten mit seinem Arzt zufrieden ist.

Natürlich – ich will keine Pauschalurteile fällen. Die meisten Patienten werden zum Glück gut betreut. Es sind mehr die Trends, die mich erschrecken. Massiv zugenommen etwa hat, dass Patienten privat bezahlte Zusatzleistungen angeboten werden – ohne dass aufgedeckt wird, ob diese überhaupt notwendig sind. Besonders Zahnärzte, Gynäkologen und Augenärzte verdienen sich auf diese Art gerne ein paar Euro dazu. Noch bedenklicher aber ist, dass Fehlinformationen zunehmen. Manche Ärzte rechnen Leistungen mit den Patienten privat und zum erhöhten Satz ab, die sie eigentlich von der Kasse erstattet bekämen. Und die Patienten glauben ihnen und zahlen. Ein Arzt ist ja eine Vertrauensperson. Man traut ihm nicht zu, dass er einen linkt.

Könnten Politik und Gesellschaft mehr dafür tun, dass Kassenpatienten bei der Terminvergabe gerechter behandelt werden?

So verständlich es ist, dass ein Arzt gerne lukrative Privatpatienten behandelt – Geld darf kein Kriterium sein. Es darf keine Zwei-Klassen-Medizin geben. Eine Möglichkeit ist, an den ärztlichen Ethos zu appellieren. Hilfreich wäre es aber auch, wenn die Menschen besser informiert wären. Die Medien spielen hier eine wichtige Rolle. Wir brauchen mehr Transparenz. Nur wenn Patienten wissen, welche privat bezahlten Zusatzdienste wirklich heilsam sind und welche bloß teuer, können sie ihrem Arzt auf Augenhöhe begegnen.