Schüttelfrost einer Zeit

Das Reden über die RAF, angeblich nicht unschuldige Opfer, Reue, Gnade und heimliche Rechtfertigungen

VON JAN FEDDERSEN
(TEXT) UND MICHA BOJANOWSKI (FOTOS)

Auch dieses Bild gibt die Erinnerung frei. Ein Frühling im Norden von Hamburg, der Bolzplatz begrenzt vom Maschendrahtzaun eines Krankenhauses. Wer aus der Siedlung zur U-Bahn wollte, musste an ihm vorbeigehen. Nachmittag für Nachmittag nahm dort auch eine Frau ihren Weg, die in tiefes Schwarz gekleidet war, den Kopf leicht gesenkt, vielleicht um niemanden ansehen zu müssen. Eine trauernde, aber keine alte Frau. Das konnte man sehen, weil sie so rasch ging, bestimmt und fest. Bolzen und Reden hörten immer in dieser halben, irgendwie auch endlosen Minute auf, der Ball begann zu ruhen. Schwarz stand für Tod, wer hätte das nicht gewusst. Eine von uns muss ihre Eltern gefragt haben, ein paar Tage später sagte sie, die Frau habe ihren Mann verloren, erschossen, von Terroristen.

Das mag der Mai des Jahres 1972 gewesen sein, alles sah grün aus, erblüht, saftig. Willy Brandt war Kanzler, im Herbst jenes Jahres sollte er triumphal wiedergewählt werden. Das wollte die Union natürlich verhindern, wie alles, wofür die sozialliberale Koalition damals stand: eine reformerische Politik, die wenig mit realem Sozialismus zu tun hatte, aber mit Ostpolitik; Entkriminalisierung der Abtreibung; Mitbestimmung in den Betrieben; Arbeitsschutzgesetze; bessere, weniger von den Ordinarien bestimmte Universitäten; und insgesamt den Wunsch, dass der Muff und der aggressive Dreck, für den die Anderen standen, nicht wieder ans Ruder kommen sollten. Die Konservativen waren uncool, und wer Eltern hatte, die die auch noch wählten, sagte das auf dem Bolzplatz lieber nicht laut.

In diesen Frühling passte diese schwarze, wütend trauernde, wie unberührbar wirkende Frau nicht.

Sie heißt Sigrun Schmid, war damals eine junge Frau aus dem Schwarzwald, die es der Liebe wegen nach Hamburg verschlagen hatte. Ihren Mann Norbert hatte sie als 16-Jährige kennengelernt, als er mit seinen Eltern in ihrer Heimat Urlaub machte. Mit ihm, dem Polizisten, zieht sie, die Katholikin aus der baden-württembergischen Provinz, in den protestantischen Norden. In der Nacht des 22. Oktober 1971 ist ihr Mann im Dienst, Zivilfahnder bei der Hamburger Polizei. Anderthalb Stunden nach Mitternacht beobachtet er mit einem Kollegen die Fahrgäste der letzten S-Bahn an einer Endhaltestelle. Beiden fällt eine Frau in schwarzem Mantel auf.

Eine gewöhnliche polizeiliche Situation? Die frühen Siebziger waren anders. Der Staat hatte längst die Feinderklärung der Kader um Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe begriffen. Übergenau hatte seine Polizei wahrzunehmen, was nicht in den Griff zu bekommen war: Eine Szene, nicht nur einzelne Männer und Frauen, verhielt sich gegenüber dem, was sich Rote-Armee-Fraktion nannte, gleichmütig, ja sympathisierend. Schwer zu erklären heutzutage, aber das damals Tausenden gemeinsame Gefühl war: Die führen nur aus, wozu man selbst zu feige ist. Wogegen die Polizei zu ermitteln hatte, war insofern nicht sichtbar, denn in Sonderheit die RAF-Kader wussten sich – wie es ein zeitgenössischer populärer Zitatgeber formuliert hatte, nämlich Mao Tse-tung – im Land zu bewegen wie Fische im Wasser.

Norbert Schmid und sein Kollege folgen der Frau im schwarzen Mantel in dieser Herbstnacht. Die Hamburger Wetteraufzeichnungen besagen, es ist empfindlich kühl, der Wind beißt. Die Polizisten wissen nicht, dass die Beobachtete die zur Fahndung ausgeschriebene Terroristin Margit Schiller ist. Sie verlieren sie bei einem Einkaufszentrum aus den Augen, kommen ihr aber in einer Tiefgarage wieder nahe. In der Nähe der Beobachteten steht inzwischen auch ein Paar. Beide Zivilfahnder glauben, es seien Passanten. Sie gehen auf die Frau zu und fordern sie auf, stehenzubleiben. Als einer von ihnen auf Margit Schiller zugeht, kommt das Paar hinzu und gibt drei Schüsse ab. Norbert Schmid wird tödlich getroffen.

Noch in der Nacht des Mordes fährt der Direktionschef von Schmids Polizeidienststelle zu dessen Haus in einem Vorort der Stadt. Beginnt Sigrun Schmid zu erzählen, so stand es jüngst im Hamburger Abendblatt, wie gefährlich der Polizistenberuf doch sei. Man kennt diese Szene aus Krimiserien, niemand möchte Angehörige über den Tod ihrer Nächsten informieren. Die Frau des Getöteten sagt, so erinnert sie sich: „Ich komme mit ins Krankenhaus.“ Bekommt aber nur lapidar zur Antwort: „Er ist in der Gerichtsmedizin.“

Norbert Schmid, Vater von zwei Kindern, ist das erste von 35 Opfern des politischen Linksterrorismus in der Bundesrepublik, getötet, exekutiert, ermordet durch die RAF. Sie heißen weiter: Herbert Schoner, Hans Eckardt, Paul A. Bloomquist, Clyde Bonner, Ronald Woodward, Charles Peck, Ian McLeod, Günter von Drenkmann, Andreas von Mirbach, Heinz Hillegaart, Siegfried Buback, Georg Wurster, Wolfgang Göbel, Jürgen Ponto, Reinhold Brändle, Roland Pieler, Helmut Ulmer, Heinz Marcisz, Arie Kranenburg, Hanns-Martin Schleyer, Hans-Wilhelm Hansen, Dionysius de Jong, Johannes Goemans, Edith Kletzhändler, Ernst Zimmermann, Edward Pimental, Frank H. Scarton, Becky Jo Bristol, Karl Heinz Beckurts, Eckhard Groppler, Gerold von Braunmühl, Alfred Herrhausen, Detlef Karsten Rohwedder und Michael Newrzella.

Margit Schiller lebt inzwischen in Uruguay, wo sich die Tupamaros – der RAF in der Bundesrepublik damals durchaus in Stil und Methode ähnlich – einem vollständigen Politikrelaunch unterzogen haben und mittlerweile als gemäßigte Linke gelten. Die Frau im schwarzen Mantel erzählt dort von ihrem eigenen Leben. Die RAF werde von ihr, berichten Reisende, die sie dort erlebt haben, als militärischer Arm der linksradikalen Bewegung jener Jahre geschildert – leider habe man beim Volk nicht jenes Verständnis gefunden wie die Tupamaros bei dem ihren.

Auch sie war nach ihrer Verhaftung im Knast im Hungerstreik. Aber nicht lang, weil sie die Kraft nicht gehabt habe, eine solche körperliche Belastung durchzuhalten. Schiller weiß manches mitzuteilen aus jenen Tagen, natürlich nichts Präzises, nichts, was klären helfen könnte, wer denn nun genau für welche Morde verantwortlich ist.

In einem Gespräch für das taz.mag (29. April 2000) sagte sie auf die Frage, wie sie zur Gewalt der RAF stehe: „Gewalt wird bis heute in einem ganz entsetzlichen Maße angewendet von denen, die Macht haben. Wenn die sie missbrauchen und überhaupt kein Problem damit haben, dass Tausende durch ihre Politik oder Waffen sterben, dann ist das für mich das wirklich große Verbrechen. Ist ein Verteidigungsminister ein Mörder, der Bomber losschickt, oder ist derjenige ein Mörder, der verhindern will, dass er das tut? Das sind nicht Moral-, sondern Machtkategorien, und die kann ich so nicht akzeptieren.“ Eine verblüffend kühle Antwort einer Kaderfrau jener Bewegung, die sich, durchaus sich selbst ermächtigend, daranmachte, zu bestimmen, wer in der Bundesrepublik als Nächster des Todes sei. Ein Ton, der noch so viele Jahre nach ihrem Ausstieg aus dem politischen Terrorismus enthüllt, wie ernst es ihm mit der Gewalt war – und wie kalkuliert sie in Anschlag gebracht wurde. In dieser Rhetorik ist alles enthalten, was den politischen Stil der RAF und der sogenannten radikaleren Linken in den 70ern prägte und deren letzten Reste in der Jetztzeit prägt. Die Abspaltung eines persönlichen Schuldbewusstseins, die Negierung dessen, was die eigene Verstrickung betrifft – und im Grunde die Bejahung dessen, was war. In dieser Antwort scheint der Abschied vom politischen Terrorismus lediglich insofern auf, als er wegen Erfolglosigkeit offenbar habe sein müssen. Weiter sagt Schiller in diesem Gespräch auf den Einwand der Interviewerin, sie erwähne die „von der RAF Ermordeten“ ja nur „sehr kurz und emotionslos“: „Ich habe viele Tote erlebt in meiner Geschichte und rechne sie nicht gegeneinander auf. Konkret gibt es einen toten Menschen, aber es gibt auch einen konkreten Menschen in einem Pharmakonzern, der dafür verantwortlich ist, dass irgendwo siebzigtausend Leute krepieren, weil die Produktion eines Medikaments eingestellt wird, an dem man nichts mehr verdienen kann. Natürlich hat dieser Mann auch Familie, und ich respektiere, dass da menschliche Konsequenzen und Schmerzen sind. Aber auch die Nazikriegsverbrecher hatten Angehörige.“

Wer damals noch nicht geboren war und die Stimmung dieser Ära partout nicht nachfühlen kann, darf erfahren: Die Logik der Margit Schiller ist absolut repräsentativ für alle Erklärungen aus jener linken Szene, die sich der RAF gewogen fühlte. Was regen die sich auf über ein paar Tote? Das bisschen Blut, das wird doch trocknen. Wo gehobelt wird, da fallen Späne! Die Ermordeten fielen nicht weiter ins Gewicht, allein deshalb, weil doch Herrhausen, ein spätes Opfer der Achtzigerjahre, Deutsche-Bank-Chef war und Schleyer unter dem Nationalsozialismus auch schon sein Auskommen hatte. Der gewaltsame Tod von Edward Pimental wurde in besagten Kreisen schon eher als unnötig empfunden. Ein US-Soldat, der keine andere Funktion hatte als die, dass man mit seinem Ausweis bei einem weiteren Anschlag das Militärgelände betreten konnte. Die Verantwortung wurde ganz den Opfern zugeschoben: Selbst schuld – hätte ja nicht der Deutschen Bank vorstehen müssen; kein Wunder, war ja irgendwie ein Nazi; blöd gelaufen, beim GI, aber amerikanische Militärangehörige müssen doch ohnehin damit rechnen, nicht gemocht zu werden.

Michael Newrzella war das letzte der Opfer der RAF und ihrer Erbfolger. Am 27. Juni 1993 wurde er auf dem Bahnhof von Bad Kleinen erschossen. Der GSG-9-Beamte nahm Teil an einer Aktion, bei der der Terrorist Wolfgang Grams festgenommen werden sollte. In der Urkunde seiner Kameradschaft steht: „Michaels Mut und seine bedingungslose Einsatzbereitschaft für Recht und Gesetz in unserem Staat verdienen unsere volle Anerkennung.“ Was man eben so schreibt, wenn einem die Worte fehlen und man trotzdem so etwas wie Trauer formulieren möchte. Die Eltern des Beamten, Peter und Susanne Newrzella, fragen, worauf sie nie eine Antwort bekommen werden: „Warum musste gerade Michael sterben?“ Er geht ihnen nicht aus dem Kopf und kann es auch nicht: „Wie lange hält man das durch ohne ihn? Er fehlt.“

Anne Siemens hat jüngst ein bemerkenswertes Buch herausgegeben: „Für die RAF war er das System, für mich der Vater“ – eine andere Geschichte des deutschen Terrorismus. In teilweise herzergreifenden Interviews mit den Angehörigen der Terroropfer hat sie deren Stimmen überhaupt hörbar gemacht. Die Autorin ist Jahrgang 1974. Sie kann nicht berichten, wie diese seltsamen 70er waren – ein Jahrzehnt im Aufbruch und eines des Abschieds von deutscher Hörigkeit gegenüber allen Obrigkeiten. Sie war nicht dabei in dieser Solidaritätshölle, als selbst Schulversammlungen Erklärungen abgeben mussten gegen Hungerstreik, „für die Ulrike“, „den Günter“ oder andere, die im Zusammenhang mit der RAF im Knast saßen, in – ob tatsächlicher oder vermeintlicher – Isolationshaft, als sich niemand in der politischen Linken jenseits der realsozialistischen DKP oder der Sozialdemokratie traute, gegen den Zwang zur RAF-Solidarität oder die plenaren Gehirnwäschen in Sachen Mitgefühl zu protestieren.

Erstaunlich ist Siemens’ Buch in erster Linie aus einem Grund: Niemand von jenen, von denen sie etwas wissen wollte – ob die Familie von Mirbach, die Familie Hillegaart, ob Corinna Ponto, Hanns-Eberhard Schleyer, Patrick von Braunmühl, Gabriele von Lutzau und Jürgen Vietor, Besatzungsmitglieder der entführten Passagiermaschine „Landshut“ –, niemand spricht auch nur annäherungsweise im Sinne einer Mentalität, die auf Rache oder Vergeltung, wenigstens auf Entschuldigung hofft. Sie alle wollen nur verstehen – und manche wollen wenigstens wissen, wer die Schüsse abgab. Es reicht ihnen nicht, die Ermordung ihrer Angehörigen nebelhaft einem Kollektiv zuzuordnen: Aus der Traumaforschung wissen wir, dass Trauernde einen konkreten Ort brauchen, um sich mit dem Tod Nahestehender abfinden zu können.

Vertrackt für sie alle ist, dass keiner, wirklich kein einziger aus der RAF-Szene ihnen jemals eine Antwort geben wollte. Und es steht zu befürchten, dass dies auch so bleibt. Wenn schon einer wie Margit Schiller nichts einfällt, als die durch ihre Szene Getöteten in abstrakter Weise aufzurechnen gegen Tote in aller Welt, wird anderen erst recht nichts einfallen. Dass sich ihre Stimmen, ihre Aussagen jetzt häufen, mag den Unbeteiligten ohnehin auf die Nerven gehen. Aber auch das gehört zu diesen 70er-Jahren – dass damals keiner aus den linken Milieus das Leid der Hinterbliebenen wenigstens zur Kenntnis nehmen wollte. Der Buchtitel von Anne Siemens hätte damals nicht begriffen werden können: Das „System“, wie es landläufig hieß, war als Kern dessen, dem politische Aufmerksamkeit galt, allemal wichtiger als eine viel zu persönliche Figur namens „Vater“. Was zählte schon ein Ermordeter – der nie so genannt werden durfte, klüger war es, „Getöteter“ zu sagen –, wo doch so viele „Charaktermasken“ wie eben Schleyer, Ponto und all die anderen sich vor dem RAF-Weltgericht zu verantworten hatten für die unzähligen Toten sonst wo auf der Welt. Die Linke war, wie Jan Philipp Reemtsma konstatiert, in diesem Jahrzehnt wehleidig und selbstgerecht.

Reemtsma, ein mitleidloser Kritiker des terroristischen Wahns, analysierte vor zwei Jahren, nachzulesen in der zweibändigen Anthologie „Die RAF und der linke Terrorismus“, dass die RAF tötete, weil sie töten wollte – nicht aus Notwehr, nicht aus Ohnmacht: sondern aus einem Gefühl der Macht heraus. Die Linke hatte doch in den 70ern, so lässt sich diese These weiterführen, längst gelernt, sich im frischen Wind des auf Liberalisierung wabernden Zeitgeistes in jeder Hinsicht als Opfer darzustellen – als Exekutoren nur dann, wenn es wirklich nicht zu vermeiden war.

Kenner der RAF-Szene, die sich nach wie vor nicht gern namentlich zitiert wissen möchten, erinnern sich ungern daran, dass man jene, die zu Tode kommen sollten, nicht sehr genau aussuchte – man nahm, was sich anbot. Eben Norbert Schmid, der war aber einfach nur Polizist und störte quasi. Aber Hanns-Martin Schleyer, Jürgen Ponto, Günter von Drenkmann oder Alfred Herrhausen: diese Opfer waren, das bestätigen alle, die es wissen müssen, sozusagen spontimäßig ausgewürfelt worden: Gelegenheit macht Mörder.

Dass aus diesen Zirkeln gegenüber den Angehörigen niemals auch nur eine Spur von Scham, Schuldbewusstsein oder Demut geäußert wurde, spricht nur für eines: dass das Gefühl von Schuld schon immer vorhanden war. Und keiner jetzt eingestehen kann, das zentrale Gebot zivilisierten Zusammenlebens bewusst missachtet zu haben: „Morde nicht!“ Die Erinnerungsfeiern, die es in diesem Jahr geben wird, sind notwendig. Jene, die den Opfern des Terrorismus hätten etwas erklären können, haben es nicht tun wollen. Dann müssen es andere schaffen.

Als Sigrun Schmid nachts die Nachricht vom Tod ihres Mannes erhielt, hat sie nichts begreifen können, wie sie dem Hamburger Abendblatt sagte. „Ich konnte nicht mehr denken und hatte über Stunden eine Art Schüttelfrost.“

JAN FEDDERSEN, 49, ist taz.mag-Redakteur