Zwei Ideen, drei Farben, fertig

Die Mauer war das Pinboard der Westberliner Befindlichkeit. Der Bildband „Berliner Mauerkunst“ erinnert an die Künstler, die den grauen Lindwurm zu einem Ort für Malerei und Performance machten und hier zumindest Sozialgeschichte schrieben

VON TIM ACKERMANN

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn die DDR-Grenzer Thierry Noir nicht immer beim Pinkeln zugeschaut hätten. Von ihrem Beobachtungsturm konnten die „Grepos“ mit dem Fernglas genau aufs stille Örtchen des Rauch-Hauses blicken. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Westberlin 1984 nicht so eng, die Mauer nicht so grau gewesen wäre. Eines Nachts hatte Thierry Noir nämlich die Schnauze voll. Er lief aus dem Rauch-Haus und malte zwei bunte Köpfe auf den „antifaschistischen Schutzwall“.

Noir war nicht der erste Mauermaler und schon gar nicht der einzige. Der Franzose, der 1982 nach Westberlin kam, ist jedoch einer der wenigen Künstler, die über lange Jahre hinweg den „Schutzwall“ mit Bildern verzierten. Das macht ihn nun zum Protagonisten von „Berliner Mauerkunst“ – einem Bildband, in dem der Berliner Autor und Fotojournalist Ralf Gründer dokumentiert, wer auf dem Betonwurm genau wo und was gepinselt hat. Ein beachtenswertes Kompendium, zumal in Zeiten, in denen die jüngste Generation Berliner Writer schon nach dem Mauerfall geboren wurde. Und die Auftragsarbeiten an der East Side Gallery heute für authentische „Cold War Street Art“ halten könnte.

Naturgemäß vollzieht Gründers Bildband einen Spagat: Während den Malern im Westen die Mauer als „längste Leinwand der Welt“ erschien, wurde auf der anderen Seite scharf geschossen. Um den Todesstreifen der DDR nicht zu trivialisieren, schickt Gründer dem Bilderreigen ein Kapitel über den Bau der Grenzanlagen und die vielen Mauertoten voran. Auch spricht es für den Autor, dass er sich mit zahlreichen Mauermalern beschäftigt, die in ihrer Kunst die Existenz des Eisernen Vorhangs reflektierten. Gründer erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eher ist sein Buch die Oral History einer Mauerkünstlerszene, die in den 80ern in Kreuzberg aufblühte.

Nachdem Thierry Noir seine ersten beiden Köpfe auf die Mauer gemalt hatte, zog er in der folgenden Nacht wieder los. Diesmal mit Kumpels: Christophe Bouchet, Jean-Yves Dousset, Kiddy Citny und Alexander Hacke. Gemeinsam begannen sie die Mauer hinter dem Rauch-Haus zu bearbeiten. Dousset distanzierte sich bald wieder von der Mauermalerei. Weil er die Mauer nicht in ihrer Existenz bestätigen wollte. Die anderen werteten ihre Kunst als „Akt der Rebellion“, der in ihren Augen die Verletzbarkeit des Bollwerks vor Augen führen sollte.

Grepos und Schlupftore

In den nächsten Jahren schufen Künstler zwischen Potsdamer Platz und Schlesischer Straße zahlreiche großformatige Mauerkunstwerke. Christophe Bouchet hängte als Hommage an Marcel Duchamp ein Pissoir an die Betonwand. Hans-Jürgen Große alias „Indiano“ malte nachdenkliche graue Gesichter, die er mit Weltschmerzlyrik überschrieb. Und Noir verzierte die Mauer mit seinen berühmten „Eierköpfen“, für die er das sogenannte Fast Form Manifest entwickelte: „Zwei Ideen, drei Farben, fertig.“ So konnte er mit seinen grob gestalteten Figuren ziemlich schnell große Flächen füllen.

Denn schnell musste man auch auf der Westseite der Mauer sein: Die ersten drei Meter nach der Betonwand gehörten noch zum DDR-Territorium. Durch kleine „Schlupftore“ im Bollwerk konnten jederzeit Grepos auftauchen. Zum Verhängnis wurde eine dieser Türen auch dem Mauerkünstler Wolfram Hasch, der sich im November 1986 plötzlich einem DDR-Grenzer mit gezückter Pistole gegenüber sah. Hasch wurde verhaftet und in Ostberlin zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Die Bundesregierung kaufte ihn daraufhin frei.

Die Geste der Rebellion endete selten im Knast, des Öfteren im Dekorativen: Kiddy Citnys „Mauer-Prinzen“ wirkten mit ihren süßen Krönchen schon immer ziemlich kitschig. Eine adäquate Bildsprache fand ausgerechnet Alexander Hacke, der den politischen Hintergrund der Betonmalerei im Nachhinein bestritten hat. Hacke, der bei den Einstürzenden Neubauten damals hauptberuflich die Gitarre schruppte, verzierte die Mauer mit einem zwei Meter hohen Totenkopf und verwies damit auf die gegenseitige semantische Durchdringung von Todesstreifen und Mauerkunst.

Solche Beispiele werden in „Berliner Mauerkunst“ kurzweilig erzählt. Nur manchmal führt Gründers große Empathie für die Mauerkünstler zur Peinlichkeit. So bezeichnet er den Writer, der ein Bouchet-Bild mit dem Wort „Ficken“ verzierte, als „pubertierenden Schmierfinken“. Gründer fällt hier auf die Lieblingsillusion von Street Art herein – die Vorstellung, dass Writer durch ihre Pieces einen Anspruch auf öffentlichen Raum erwerben. Auch Noir soll seine Bilder regelmäßig von fremden Tags befreit haben. Wenn aber die Mauerkunst eine Bedeutung hatte, dann als ein Palimpsest der Westberliner Befindlichkeit, als ständig wieder neu geschriebenes Pinboard für alle. Noirs Identifikation mit dem Betonbollwerk ging aber so weit, dass er noch 1999 zusammen mit Bouchet und Citny einige Segmente bemalte – als Protest gegen das Verschwinden der Mauer aus dem Stadtbild.

Ralf Gründer: „Berliner Mauerkunst. Eine Dokumentation“. Böhlau Verlag, Köln 2007, 352 Seiten, 34,90 €