Erst mal nur ein Gedicht

Unter den jungen Regisseuren ist Nuran David Calis so etwas wie der Spezialist für pubertäre Nöte geworden. Am Schauspiel Hannover inszeniert er „Frühlings Erwachen“ nach Wedekind

VON SIMONE KAEMPF

Zwischenbilanz einer Heranwachsenden: „Dinge, die ich vergessen will, wenn ich erwachsen bin: den Streit, bei dem Papa Mama einen Löffel in die Seite gerammt hat. Dinge, die ich machen will, wenn ich erwachsen bin: Vater, Mutter, Lehrern, dem Exfreund eins in die Fresse schlagen. Dinge, an die ich mich erinnern will: Knutschen mit einem Typen nur so lange, bis er das nächste Getränk zahlt.“

Zumindest das Bier ist in der Inszenierung von „Frühlings Erwachen“ im Schauspiel Hannover kein Problem. Die beste Freundin, Wendla, hat zum Geburtstag einen Kasten ausgegeben. Man hockt zusammen und trinkt, die Jungs reißen Sprüche, die Mädchen spritzen mit Bier herum. Dann droht das Spiel in Gewalt umzukippen, alle bewerfen sich immer heftiger mit den Flaschen – unkontrolliert, dabei auch euphorisch, wie ein kurzer Rausch, bevor sich das genauso plötzlich wieder auflöst.

Text und Szene könnten durchaus von Wedekind sein. Das Schwärmerische, der Reiz des Sexuellen, das durch Angeberei und Unsicherheit ins Aggressive umschlägt, sind auch bei ihm enthalten. Der Ton der Straße basiert dagegen auf Interviews, die Regisseur Nuran Davis Calis mit Hannoveraner Jugendlichen geführt hat. Mit Hilfe einer Reihe nach dem Original umgeschriebener Szenen schließt Calis glaubhaft die Lücke zwischen der tabubeladenen Sexualmoral in Wedekinds „Kindertragödie“ und der überfordernden sexuellen Überproduktion der Gegenwart. Und liefert so den Stoff für die Träume, die im Grunde immer ähnlich sind, wenn der Mensch jung ist.

Das Stück beginnt an dem Tag, an dem Wendla einen dieser Geburtstage feiert, an dem man nicht mehr Kind ist und noch nicht erwachsen. Es ist also fünf vor zwölf, die Zeit drängt. „Lieber schlechte Erfahrungen machen als gar keine“, sagt die Wendla der Sonja Beißwenger, die mit Tanktop, Trainingshose, Nietengürtel und Felljacke so kultig wie aufgerüstet angezogen ist von der Kostümbildnerin Silke Rekort. Doch ob aufgetakelt oder nackt bis auf die Unterhose: es gibt immer einen Moment, wo die, die sich ausprobieren, als Verlierer dastehen. „Ja, willst du denn nicht“, wird Moritz von Ilse gefragt. Ja, er will, aber erst mal will er ein Gedicht vorlesen. Romantik, für die er eine Ohrfeige erntet.

In seinem letzten Stück „Schwarz“ auf der Studiobühne des Thalia-Theaters hat Calis an einer ähnlichen Stelle einen Rapper ins Geschehen geholt, der für die verdruckste Hauptfigur eine Biografie als armenischer Flüchtling erfand, um bei den Mädchen anzukommen. Der rappende Superficker ist bei Calis das wiederkehrende Role-Model für unerreichbare jugendliche Sehnsüchte. In „Frühlings Erwachen“ dient er diesmal als mediale Fluchtfigur. In einem schwarzweißen Videoclip, der eingespielt wird, verfügen die Jugendlichen Wendla, Ilse, Martha, Moritz, Melchior, um die es hier geht, gemeinsam über starke Zeichen und singen von der Wut im Bauch: „Ich will hier raus.“ In der realen Bühnenwelt, zwischen Küchentisch, zwei weißen Wänden und einem Marktplatzbrunnen im Bühnenvordergrund sind sie nur das Produkt der Lebensphase, in der sie sich befinden. Aufmüpfig und schüchtern zugleich – und längst nicht so cool, wie sie gerne wären. Und dass das gar nicht peinlich rüberkommt, ist schon eine ziemliche Leistung.

Für die Nöte Jugendlicher scheint Nuran Calis, 1976 in Bielefeld geboren, ein gutes Ohr zu haben, und ein gutes Auge. Vor dem Regiestudium hat er als Türsteher gearbeitet, danach Hiphop-Videoclips gedreht. In Essen erarbeitete er mit Jugendlichen den Abend „Homestories“, der zurzeit auch als Gastspiel in Hamburg oder Berlin zu sehen ist. Dass in Hannover mit Picco von Groote, Svenja Wasser, Christoph Franken gestandene, wenn auch junge Schauspieler auf der Bühne spielen, schadet weder der Intensität noch der Authentizität. Unglaubwürdig wird die Inszenierung erst dort, wo Calis das Feld, auf dem er sich auskennt, verlässt und in die Erwachsenenwelt wechselt. Wendlas Mutter (Martina Struppek) ist zwar kein stereotypes Hausmütterchen, aber muss weitgehend ihre eigene Verklemmtheit zelebrieren. Moritz’ Vater (Bernd Geiling) gibt den slicken Emporkömmling, der vor dem Sohn die harte Hand spielen lässt und danach verschwörerisch ins Publikum zwinkert: Sie verstehen halt keine andere Sprache.

Wenn die Kids dagegen mit einem Einkaufswagen über die Bühne rasen, sich im Rap-Battle gegenseitig niedermachen und dann doch wieder zusammenhocken, gewinnt Calis viel präzise Ambivalenz aus jugendlichen Stereotypen, die der Abend nicht leugnet, und die er sogar zu individuellen Motiven und Interessen zu entwickeln schafft.

Am Ende ist Wendla schwanger. An einer illegalen Abtreibung, wie es Wedekind vorsah, muss sie nicht sterben. Aber ein Kind? „Ich will es bekommen“, sagt die Minderjährige. „Wegmachen“, sagt Kindesvater Melchior. Zwei Lösungen kann es für die erste große Entscheidung ihres Lebens nicht geben. Der Abend endet offen. Kein rappender Superstar der Welt kann da helfen.