Nicht nur Mörder schießen

Gewaltsame Todesfälle, durchzechte Nächte: Für den Mann, der sich Weegee nannte, gehörten sie zum Leben der Lower East Side. Die Galerie C/O Berlin stellt den Chronisten der Großstadtnacht vor

VON MARCUS WOELLER

Wer in den Vierzigerjahren in New York Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, war oft schon fotografiert, noch ehe der Leichnam kalt war. Meistens von Arthur Fellig alias „Weegee, the Famous“. Oft noch vor der Polizei am Tatort, suchte er den interessantesten Blickwinkel, baute seine 4-x-5-Zoll-Kamera auf, steckte das Blitzlicht auf und schoss. Die Toten liegen in Hauseingängen, über Bordsteinkanten, hart auf das Gesicht gestürzt auf dem Asphalt. Blutverschmierte und notdürftig mit Decken verhüllte Opfer von Messerstechereien und Drive-by-shootings, Raubüberfällen und Mafiaschießereien.

Crime Photographer gab es viele zu der Zeit. Weegee war nicht nur schneller, er hatte auch den besonderen Blick. Er war nicht wie die meisten Kollegen auf die Leiche oder die Polizisten fixiert. Weegee beobachtete den gesamten Schauplatz, ließ seinen Blick schweifen zwischen menschlicher Tragödie, sozialem Kontext und der Ironie des Schicksals. „Their first murder“ zeigt Kindern und Frauen als Schaulustige eines Verbrechens. In ihren Gesichtern spielt sich die ganze Bandbreite menschlicher Reaktion auf die Konfrontation mit dem gewaltsamen Tod ab: kindliche Neugier und naive Lust am Spektakel, aber auch Angst, Abscheu, Entsetzen, Verzweiflung und Trauer.

Andere zeigen sich da abgebrühter. Am Strand von Coney Island ist ein Ertrinkender gerade aus der Brandung gezogen worden. Sanitäter versuchen ihn wiederzubeleben. Ein Mädchen kniet dabei und flirtet ungeniert mit der Kamera. Drei Typen posieren dahinter und lassen die Muskeln spielen. Wenn ein Unglück oder ein Verbrechen geschieht, kann die ganze Straße zur Bühne werden und Feuertreppen und Balkone zu Theaterrängen. In „Balcony Seats at a Murder“ sind die begehrten Plätze alle besetzt, es müssten nur noch Operngläser ausgeteilt werden.

Weegee, der eine Wohnung direkt gegenüber dem Polizeirevier hatte und selbst in seinem Chevrolet den Polizeifunk mithörte, interessierte sich wenig für die Mordopfer. Auch nicht für die Aufklärung der Verbrechen. Sein Interesse galt dem Leben der Menschen auf der Lower East Side, und da gehörten gewaltsame Todesfälle ebenso dazu wie Brände, Verkehrsunfälle und durchzechte Nächte in Sammy’s Night Club auf der Bowery. Er porträtiert aufgetakelte Kleinganoven mit Einstecktuch und Nelke im Knopfloch auf dem Polizeirevier, die in die Kamera grinsten, als wären sie Kandidaten eines Castings. Transvestiten machen ihre Verhaftung zur One-Woman-Show, Kleptomaninnen in Handschellen versuchen die Contenance zu wahren. Afroamerikaner erdulden ihre rassistische Ausgrenzung.

Doch ist er nicht nur ein Chronist, dicht dran an den Brüchen der Gesellschaft, sondern auch Initiator eines neuen Verständnisses von Fotografie. Seine Rolle als Fotograf inszeniert er ganz bewusst. Denn nicht nur Mörder schießen! „Roosting in a Window Still, Waiting for Action“ zeigt Weegee, wie er auf einem Fassadenvorsprung sitzt. Vor ihm hängt ein überdimensionierter Revolver, die Werbung eines Waffengeschäfts. Ein anderes Bild zeigt einen elegant heruntergekommenen Herrn neben einem Schild: „10 Shots, 10 Cents.“ Schießbude oder Fotoatelier? Für die Buchung eines Auftragskillers jedenfalls eine zu günstige Rate. Schließlich bekam man als Fotograf für zwei Morde schon 35 Dollar, wie Weegee mit einem abfotografierten Honorarbeleg beweist.

Das Verhältnis von Schrift und Bild hat Weegee immer wieder beschäftigt und macht ihn zu einem Wegbereiter der Pop-Art. Sein nächtliches New York wird erhellt von Neonreklamen und Werbebotschaften, die Ed Ruschas Phrasenbilder vorwegzunehmen scheinen. „We Give You Peace of Mind“, heißt es dann oder „New York Is a Friendly Town“. Da liegt ein Toter vor einem Kino, das den Film „Joy of Living“ zeigt. Dort zieht sich ein Obdachloser die Schuhe aus, um sich über einem Abluftschacht der U-Bahn die Füße zu wärmen, und hinter ihm wirbt ein Schaufenster mit „Official Tire Inspection Station“ für die regelmäßige Überprüfung der Reifen.

Die Ausstellung „Weegee’s Story“ gewährt einen Einblick in eine der weltweit bedeutendsten und umfassendsten Sammlungen von Fotografien des New Yorker Bildjournalisten. Der Sammler und Galerist Hendrik A. Berinson hat 228 Vintage-Prints zur Verfügung gestellt, die nun bei C/O Berlin gezeigt werden. Die geschickte Hängung stellt Bezüge zwischen den einzelnen Fotos her und präsentiert Weegee als komplexen Bildkompositeur und Künstler unter den Journalisten. Nur sein Geheimnis bleibt gewahrt, warum er stets als Erster zur Stelle war.

„Weegee’s Story“, C/O Berlin, Oranienburger-/Ecke Tucholskystr., Mo–So 11–20 Uhr, bis 6. Mai