Die böse Mutter der Gruppe 47

Neue Funde rund um die Journalisten Hans Jürgen Krüger und Freia von Wühlisch belegen: Die legendäre Schriftstellervereinigung, mit dem Ruf einer moralischen Instanz, hatte von 1947 an ein Naziproblem – es wurde nie eingestanden

Ganz dosiert floss eine mythische Sicht auf das Leiden der Deutschen einEs geht bei der Geschichte der Gruppe 47 ein Stück weit um Lügen

VON SABINE PAMPERRIEN

Kürzlich berichtete die Berliner Zeitung von einem neuen Fund aus den endlosen Hinterlassenschaften der DDR-Staatssicherheit. Hunderte von Journalisten der Jahrgänge 1900 bis 1927 wurden überprüft, um mögliche Opfer für die Erpressung einer Zusammenarbeit zu finden. In zahlreichen Fällen fanden die Geheimdienstler die gesuchten Hinweise auf die Teilnahme an NS-Verbrechen und Veröffentlichungen, in denen der Faschismus und seine Verbrechen glorifiziert werden. Im Jahr 1979 verfügte man über eine Liste von sechzig bis dahin unbelasteten Westjournalisten, die wegen ihrer Verstrickungen erpressbar schienen.

Mit welchem Material die Stasi dabei arbeiten konnte, illustrierte der Fall des späteren FAZ-Auslandskorrespondenten Hans Jürgen Krüger. Der 1917 geborene Journalist diente in einer Propagandakompanie der Wehrmacht. Zudem fand sich ein verräterischer Brief von 1944 an einen Freund, in dem er fantasierte, „möglichst unter einem Haufen toter Russen, mit einer Schreibmaschine auf den Knien, Manuskriptberge zu fabrizieren“. Die Stasi stufte ihn als fanatischen NS-Anhänger ein. Verwertet wurde das gesamte Material dann doch nicht, es verschwand in den Archiven. Die Biografie des 1980 verstorbenen Journalisten Krüger birgt jedoch noch ein weiteres kleines Geheimnis.

Hans Jürgen Krüger zählte zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe 47, die sich vor sechzig Jahren gründete. Seine spätere Ehefrau Freia von Wühlisch war in der Anfangsphase der legendären Intellektuellenvereinigung die rechte Hand Hans Werner Richters, des Chefs der Gruppe, und hatte erheblichen Einfluss auf seine Entscheidungen. Aus Richters Briefwechsel mit von Wühlisch liest man erstaunt, wie leicht er zu beeinflussen war. Noch 1960 bezeichnet Krüger sie in einem Schreiben an Richter als „Mutter der Gruppe 47“. Die gesamte Organisation der ersten Treffen übernahm sie, ebenso Kontakte zu Verlagen. Doch dann blieb Freia von Wühlisch den Treffen plötzlich fern. Der Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb, der vor vier Jahren mit seiner viel beachteten Streitschrift „Missachtung und Tabu. Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“ vergeblich eine Umwertung der Bedeutung der Gruppe erreichen wollte, machte die Frauenfeindlichkeit des „Männerbundes“ dafür verantwortlich.

Die Rolle der Frauen in der Gruppe 47 ist in der Tat recht eigentümlich. Das Beispiel von Wühlisch ist jedoch ungeeignet für eine Legendenbildung. Briegleb hätte eigentlich nur im Hans-Werner-Richter-Archiv nachschauen müssen. Die 1920 geborene promovierte Zeitungswissenschaftlerin stand bis zu ihrem Tod 1985 mit Richter und seiner Frau Toni in freundschaftlichem Kontakt. Im Jahr 1978 nahm sie sogar am berühmten inoffiziellen letzten Treffen der Gruppe anlässlich Richters 80. Geburtstag teil. Ende 1949 war die gebürtige Rostockerin auf die Farm ihrer Eltern in Südwestafrika zurückgekehrt. Seit 1951 lebte sie mit Hans Jürgen Krüger in Südafrika. Krüger war dort als Korrespondent für dpa und FAZ tätig und auch von Wühlisch betätigte sich publizistisch. Nach der Scheidung 1966 ging er für die FAZ nach Athen, Wühlisch berichtete für dpa, Neue Zürcher und andere bis 1972 aus Algier.

Krüger weisen nicht nur die Stasi-Materialien als Nazi aus. Schon seine Selbstauskunft für seinen Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, seine Publikationen unter anderem für die Nazi-Elite-Zeitschrift Das Reich und ein Leumundszeugnis beweisen, dass er begeisterter NS-Propagandist gewesen ist. Freia von Wühlisch brachte ihn zum zweiten Treffen der Gruppe mit, das im Haus ihrer Freunde Hans und Odette Arens stattfand. In einem Schreiben an Richter kündigt sie ihn als begabten jungen Schriftsteller an, der schon einiges publiziert habe und ganz einer der Ihren sei.

Was das heißt, ergibt sich aus der Zielsetzung der Gruppe. Sie verstand sich als Avantgarde der jungen deutschen Demokratie. In Literatur und Publizistik sollte sich eine demokratische Elite etablieren, die Vorbild im gesamten Demokratisierungsprozess sein wollte. Ganz wesentlicher Bestandteil der Selbstbeschreibung neben der Nichtverstrickung mit der nationalsozialistischen Ideologie war die Ablehnung der Kollektivschuldthese. Die insbesondere von den Amerikanern betriebene Reeducation wie auch die Entnazifizierung und die damit verbundenen Eingriffe in die Meinungsfreiheit kritisierten Richter und seine Mitstreiter scharf. Die Vehemenz, mit der später die Gruppe 47 immer wieder politisch intervenierte, begründete ihren Ruf als moralische Instanz.

Krüger hatte sein Talent als NS-Autor in einer Serie über Ritterkreuzträger für die Wehrmachtspropaganda unter Beweis gestellt. Er beherrschte den knappen, realistischen Stil, in den nur ganz dosiert und deshalb umso überzeugender pathetische Phrasen zur Überhöhung von Führer, Volk und Vaterland eingeflochten wurden. Bei der Zeitschrift Der Ruf, aus deren Redaktion die Gruppe 47 hervorging, konnte er den Realismus weiterentwickeln, nun floss ganz dosiert und umso wirkungsvoller eine mystische Sicht auf das Leiden der Deutschen ein.

Die Ehepaare Richter und Krüger befreundeten sich. Richter wurde Krügers Protegé bei der damals populären Zeitschrift Das Grüne Blatt, deren Politikressort er nun leitete. Außer Richter versorgte Krüger auch andere Mitglieder der Gruppe mit Aufträgen für Artikel, Glossen und Kommentare. Diese Zeitschrift, die in ihrer Blütezeit eine Million Leser erreichte und später in der Quick aufging, wäre eingehender Betrachtung wert. Schon auf den ersten Blick sieht man, dass 1949 bis 1951 große Artikelserien über Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg die Behauptung ad absurdum führen, die Kriegsopfer der Deutschen seien bis zu Grass’ „Im Krebsgang“ ein Tabu gewesen.

Freia von Wühlisch war neunzehnjährig im Mai 1939 aus Südwestafrika mit dem Berufsziel Journalistin zum Studium nach Deutschland gekommen. Ihr Vater, frühes Mitglied der in Südwestafrika verbotenen NSDAP, wurde bei Kriegsausbruch interniert. Zunächst schlug von Wühlisch sich mit Jobs durch und veröffentlicht erste Kurzgeschichten, ehe sie 1941 ihr Studium der Zeitungswissenschaft aufnehmen konnte. Später wechselte sie nach Heidelberg, wo sie im April 1945 promoviert wurde. Ihre Dissertation „Die Windhuker Allgemeine Zeitung und die deutsche Frage von 1933 bis 1939“ kann getrost als Machwerk bezeichnet werden. Die zeitgleich verfasste Dissertation der späteren Malaparte-Verlegerin Inge Stahlberg im selben Fach kommt völlig ohne Ergebenheitsbekundungen aus; sie wären also auch bei von Wühlisch nicht nötig gewesen.

Die fünfundzwanzigjährige von Wühlisch verfasste eine flammende Polemik gegen das Verrätertum einer deutschen Zeitung, die sich bemühte, den in Südwestafrika lebenden Deutschen eine umfassende Darstellung der Konflikte um das britische Mandat an der ehemaligen deutschen Kolonie zu vermitteln, statt Propaganda im Sinne des Nationalsozialismus zu betreiben. NS-Ressentiments kommen so platt daher, dass sie fast überdreht wirken. Jeder wisse, dass Handel und Gewerbe auch in Afrika von „den Juden“ beherrscht seien. Frech seien von dem opportunistischen Blatt wichtige Reden des Führers unterschlagen, dafür Deutschen Ansichten schwarzer Wissenschaftler zugemutet worden! „Die AZ war anscheinend der Ansicht, dass der Beitrag eines Negers zur Kolonialfrage besonders einsichtig und verständnisvoll wirken würde.“ Selbst ihren Nazi-Professoren waren die Gedankengänge zu banal. Sie rügten die mangelnde politische Überzeugungskraft, ließen die Arbeit aber zu.

Und dann war der Krieg auch schon beendet. Wie bei so vielen Deutschen bleibt der Vorgang der Mutation auch bei von Wühlisch im Dunkeln. Da sie in keiner Nazi-Organisation Mitglied war, konnte sie wegen ihrer englischen Sprachkenntnisse sofort bei den amerikanischen Besatzern arbeiten. Ihr Kommilitone Nicolaus Sombart verschaffte ihr die nötigen Entrees. Bis zur Wiederentdeckung eines Exemplars ihrer Dissertation in Leipzig kam niemand auf ihre Nazi-Affinität. Sie selbst behauptete, immer schon heimatlose Linke gewesen zu sein. Ihr 1960 geborener Sohn, selbst Journalist, verortete beide Eltern gar in der Nähe des Widerstandes. Einzig dem sprachsensiblen Berthold Spangenberg, in dessen Verlag der Ruf erschien, fielen schon 1947 an einer Kurzgeschichte von Wühlischs „Nazi-Mystik, dazu ein guter Schuss Rassentheorie“ auf.

Klaus Briegleb hat so gedonnert, dass man meinen konnte, er selbst hege den Anspruch, die moralische Instanz Nummer eins zu werden. Der Fall Wühlisch/Krüger beweist wie schon zuvor die Fälle Andersch, Eich, Jens, Höllerer und zuletzt Grass, dass es ein Stück weit um Lügen geht und wohl auch ein wenig um Hochstapelei. Aber letztendlich beruhte das ganze erfolgreiche Konzept der Gruppe 47 von Anfang an auf Prätention – und Medienmacht. Was man daraus vielleicht lernen kann: Vor 60 Jahren saßen ein paar Publizisten zusammen und erklärten sich selbst zur Elite. Vielleicht kann aus so etwas nie etwas Gutes werden. Gruppenzwang fördert Unaufrichtigkeit.