IM FALL KURNAZ GEHEN DER SPD DIE ARGUMENTE FÜR STEINMEIER AUS
: Ein Opfer ungesunden Menschenverstands

Die sogenannte Aufklärungsarbeit der Regierung im Fall Murat Kurnaz wird immer peinlicher. Weil wichtige Akten unter Verschluss gehalten werden, musste der BND-Untersuchungsausschuss seine gestrige Sitzung abblasen. Damit verschiebt sich auch der Auftritt von Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Ein bisher beispielloser Vorgang, der sich mit Schlamperei oder Faulheit nicht erklären lässt. Dass die Unterlagen – einen Monat nach der Anfrage – nicht geliefert wurden, verstärkt vielmehr den Verdacht, dass in den Akten nicht das zu finden ist, was Steinmeier braucht: handfeste Belege für Kurnaz’ angebliche Gefährlichkeit.

Dem einstigen Kanzleramtschef der rot-grünen Regierung und seinen damaligen Beratern gehen die Argumente aus, warum sie eine Einreisesperre für Kurnaz verhängten und warum sie bis Ende 2005 alles taten, um die Rückkehr des gebürtigen Bremers nach Deutschland zu verhindern. Über die Beweislage gegen den Guantánamo-Häftling hat der damals für den Fall Kurnaz zuständige Mitarbeiter des Bremer Verfassungsschutzamtes nun gesagt: „Wir hatten alle nichts auf der Pfanne.“ Wenn das stimmt, kann Steinmeier nur noch eine Erklärung für seine rigorose Abwehrhaltung gegen Kurnaz liefern: den ungesunden Menschenverstand, wonach es im Zweifelsfall besser ist, einen langbärtigen Muslim aus Deutschland fernzuhalten – auch wenn er in Guantánamo sitzt, auch wenn er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist.

Da diese Erklärung, jedenfalls für rechtstaatlich denkende Bürger, nicht reicht, brauchen Steinmeiers Parteifreunde noch Zeit, um eine neue Verteidigungslinie zu finden. Immerhin einen Sündenbock haben sie schon. Für den kaltherzigen Umgang mit Kurnaz möchte die SPD jetzt offensichtlich den Leiter des Bremer Verfassungsschutzes verantwortlich machen. Das bietet sich an: Walter Wilhelm blamierte sich im Untersuchungsausschuss bis auf die Knochen. Aber ihn abzuschießen dürfte nicht genügen. Wenn sich Steinmeier auf unfähige Ratgeber verlassen hat, steht er nun ziemlich verlassen da. LUKAS WALLRAFF