„Kein Tabuthema mehr“

Hanns Zischler spielt in „Die Flucht“ (20.45 Uhr, Arte) einen ostpreußischen Grafen auf dem Treck gen Westen, hätte eigentlich lieber den Gauleiter gegeben – und befürchtet keine Revanchismus-Debatte

taz: Herr Zischler, kann man eigentlich einen Grafen spielen, wenn man keiner ist?

Hanns Zischler (lacht): Also, endgültig kann diese Frage wohl wirklich nur ein Adliger beantworten. Ich glaube, im Selbstverständnis des Adels bleibt man als Bürgerlicher immer eine Karikatur. Die Nachahmung des Adligen ist ja etwas schlichtweg Unmögliches. Ob man es kann, weiß ich nicht. Aber es ist reizvoll.

Warum genau?

Weil man hier in immer noch der Zeit enthobenen Verhältnissen „west“. Im Grunde war das ja schon damals Ungleichzeitigkeit zum Rest des Deutschen Reiches: In Ostpreußen gab es noch beinahe feudale Strukturen. Deswegen im Film ja auch dieser „disdain“, diese Verachtung der gräflichen Familien gegenüber den Nazis, die ja zum guten Teil „Emporkömmlinge“ sind.

Aber Sie – als Graf von Gernstorff – machen doch mit!

Dieses Mitmachen war letztlich die verschwiegene Seite des Adels: Man hat nicht wirklich aufbegehrt, mit ganz wenigen Ausnahmen. Im Grunde hat man das Spiel mitgespielt, sich arrangiert. Aus diesem Grunde ist der ostpreußische Adel von den Nazis bis Ende 1944 ja nicht in Frage gestellt worden.

Anders als ein andere Film-Graf, der sich elegisch inmitten seiner Jagdhunde vor dem Kamin erschießt, als die Russen kommen, macht Ihr Graf Rüdiger von Gernstorff eine gewisse Emanzipation durch: Er zieht beim Treck mit, akzeptiert irgendwann, dass jetzt die Frauen das Sagen haben. Man versteht nicht ganz, warum er sich zum Schluss, als die Familie schon in Bayern in Sicherheit ist, doch noch umbringt. War das für Sie logisch?

Nein, das war nicht zwingend. Ich hab da auch ein paar Mal nachgefragt. Aber es ist ja ein bisschen wie der Ritt über den Bodensee: Er schafft das alles, weil er smart ist. Er kommt an – und dann bricht er zusammen. Die Tatsache, etwas überstanden, überlebt zu haben, die überlebt er nicht mehr – so habe ich mir das selber vorstellen können.

Was hat Sie als Schauspieler an dieser besonderen Rolle eigentlich mehr interessiert: die Person oder die Funktion?

In diesem Fall ganz klar die Funktion. Ich sag das sonst selten, aber ich hätte im Rückblick vielleicht sogar lieber eine andere Rolle gespielt, nämlich den Gauleiter. Zwar bin ich zu alt, aber da hätte ich eine Möglichkeit gesehen – als kalten Technokraten aus dem Reichssicherheitshauptamt, der dann zum Adel sagt: Euch fegen wir auch noch weg. Denn das waren für mich die entscheidenden Figuren, die Macher im NS-Regime.

Was ist für Sie die stärkste Szene im Film?

Die Filbinger-Episode, in der drei vermeintliche Deserteure durch das bis zuletzt wie eine Maschine funktionierende Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet werden. Das fand ich stark: Als eigentlich alles schon gelaufen ist, passiert noch so eine Riesensauerei.

Der Film wurde unter dem Stichwort „Tabuthema“ schon im Vorfeld heftig diskutiert. Berührt Sie diese Diskussion?

Nein. Denn wenn ich „Tabuthema“ höre, weiß ich: Es ist keins, es ist schon gelaufen. Ich glaube nicht, dass man mit dem Film noch Tabuisierung oder Enttabuisierung betreiben kann. Dass das Thema auf eine gewisse Weise natürlich unerledigt ist, zeigt die aktuelle Politik, die mit Verwerfungen von damals und heute zu tun hat: wie Polen seine eigene Geschichte aufarbeitet, wie wir dazu stehen. Das kann so ein Film dann aber nicht mehr leisten. Aber das Thema von „Die Flucht“, diese Vertreibung, ist kein Tabuthema mehr.

Warum blieb vom ursprünglichen Titel „Flucht und Vertreibung“ dann nur noch „Die Flucht“?

Korrekterweise handelt es sich tatsächlich um eine Flucht: Die Leute fliehen ja vor der drohend näher kommenden Roten Armee – und genau diese Möglichkeit wird durch die sklavisch befolgten Durchhaltebefehle Hitlers verhindert. Vertreibung ist das schwierigere Wort. Die Flüchtlinge sind ja geschützt, die Vertriebenen dagegen eigentlich die Täter – man spricht übrigens nie von den Vertreibern. Aber warum man den Titel geändert hat, weiß ich nicht. Vielleicht war es ein kluger Schachzug, das nicht mehr aufzugreifen. Sonst muss man erst einmal beweisen, dass man kein Revanchist ist. Also sagt man: „Die Flucht“ – und kann trotzdem eine recht komplexe Geschichte erzählen. Denn das muss man dem Film zugute halten: Er versimpelt nicht die Verhältnisse und auch nicht die Zuweisungen der Ursachen und Hintergründe.

Rechnen Sie trotzdem noch mal mit einer Debatte?

Debatte mit wem? Nur weil sie von den Medien herbeigeschrieben wird? Da sollte man sich doch lieber anschauen, aus welchen „Erregungswiederholungen“ solche Mediendebatten entstehen. Es gibt, wenn man will, aktuell natürlich ein ungelöstes Problem, das aber nichts mit diesem Film zu tun hat – den Restitutionsanspruch dieser „Deutschen Treuhand“. Ob dazu „Die Flucht“ etwas beträgt, wage ich allerdings zu bezweifeln – dazu müsste man einen ganz anderen Film drehen.INTERVIEW: STEFFEN GRIMBERG