An der Denkschranke

Abrechnen mit den poplinken Kulturpessimisten der 90er-Jahre? Oder die weitere Zersplitterung der Musikindustrie beschreiben? Die neue „Spex“ ist da – und schon geht der Streit um das Erbe weiter

VON TOBIAS RAPP

Es hätte so einfach sein können. Wir machen jetzt ein Musikmagazin, hätte die neue Spex-Redaktion sagen können, das vor allem ein Musikmagazin ist. Das nur noch zweimonatlich erscheint, das nicht jeder neuen Band aus England hinterherrennt, sondern seinen Autoren Platz gibt, um lange und ausführlich über andere Musiker und Szenen zu schreiben (ohne dabei die Bands aus England zu vergessen). Ein Magazin, das seinen Fotografen viel Platz einräumt. Das etwas weniger Diskurs macht als früher und dafür eher auf die dichte Beschreibung setzt.

Denn ungefähr so kann man sich die neue Spex vorstellen – die erste Ausgabe der neuen Redaktion um Max Dax, die unter großer emotionaler Begleitung der popkulturellen Öffentlichkeit Anfang des Jahres ihren Dienst antrat – und nicht nur den Umzug des Redaktionssitzes von Köln nach Berlin vollzog, sondern auch für einen personellen Bruch stand. Alle vorherigen Redaktionen der langen Spex-Geschichte hatten sich immer aus dem Umfeld ihrer Vorgänger rekrutiert.

Allein: Es hat nicht sollen sein. Schon der erbitterte Streit, der die neue Redaktion in ihr Amt begleitet hatte, war von kaum nachvollziehbarer Giftigkeit geprägt gewesen, alle möglichen Beteiligten oder Unbeteiligten vergangener Debatten hatten noch einmal auf der Unverzichtbarkeit ihres emotionalen Investments beharrt. Doch anstatt den klaren Bruch zu suchen und die alten Streits beiseitezulassen, in denen Persönliches von Inhaltlichem kaum zu trennen war, macht die neue Redaktion in ihrem Editorial das genaue Gegenteil: „The Kids Are Alright“ ist der zweiseitige Text überschrieben und versucht nichts weniger, als den berühmten Diederichsen-Essay „The Kids Are Not Alright“ zurückzunehmen, in dem jener Ende 1992 in Anbetracht der brennenden Asylbewerberheime in Ostdeutschland das Ende der Jugendkulturen als emanzipatorische Bewegungen verkündet hatte.

Wenn Nazis sich im Zeichenreservoir des Hiphop bedienen können, so Diederichsen damals, nachdem er Nazis mit Malcolm-X-Mützen gesehen hatte, lässt sich Jugendkultur nicht mehr ohne weiteres als links lesen oder beschreiben. Dieser Essay (und einige andere Texte aus jener Zeit vor ungefähr 15 Jahren) so das Editorial, habe die Spex in eine Sackgasse manövriert, aus der sie sich nie wieder habe befreien können, von da an habe sie Pop nur noch als etwas Sterbendes denken können, mit sich selbst in der Rolle des Totengräbers – das zu ändern sei nun der Job der neuen Redaktion.

Nun dürften die frühen Neunziger in Deutschland wahrscheinlich als eine Epoche des Irrtums in die Geschichte der Linken eingehen – aber einem Cluster von Texten, die damals versuchten, in einer politisch unübersichtlichen Situation alte Weltbilder neuen Umständen anzupassen und dabei irgendwie politisch handlungsfähig zu bleiben, nachträglich vorzuwerfen, sie hätten verhindert, dass man fünfzehn Jahre später sinnvoll über MySpace sprechen könne, ist so unredlich wie absurd. Es scheint ein so bizarres wie endloses ödipales Bedürfnis zu geben, mit dem Magazin jener Tage abzurechnen: Die einen lassen sich dafür Millionen aus München kommen, die anderen kapern das alte Magazin gleich selbst.

Dabei ist die neue Spex selbst so weit gar nicht weg von einigen Strängen der alten. Die Reportage über Hiphop aus Houston hätte auch dem alten Heft zur Ehre gereicht, Martin Kippenberger war nicht nur Teil des Spex-Universums, er wird auch im posthumen Gespräch mit Jutta Koether, einer der alten Herausgeberinnen, präsentiert. Die Liste ließe sich verlängern.

Wie gesagt, man hätte es leichter haben und einfach ein neues Musikmagazin machen können. Bei dem hohen Anspruch, den das Editorial formuliert, sucht man die Antwort auf die drängenden Fragen des musikalischen Zeitgeschehens allerdings vergeblich: Die Fragmentierung der Popkultur ist gegenwärtig so groß wie wohl seit 1979 nicht mehr – dem Jahr, in dem Spex gegründet wurde. Die Musikindustrie ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, das Internet bietet so gut wie alles, was einmal aufgenommen worden ist, zum Download. Was folgt daraus – außer dass diese eine neue Platte herausgekommen ist und jene auch? Das will nicht nur analysiert, sondern erst einmal erzählt werden. Wer Diskurs haben will, soll ihn machen und aufhören, alte Thesen zu dekontextualisieren. Das wäre ein Projekt, auf das man sich einigen kann.

Der Autor hat für die aktuelle Spex über LCD-Soundsystem geschrieben