Müllabladen verboten

Nie waren sie wichtiger, die Fans des FC Schalke 04. Nachdem sie zu Saisonbeginn noch mit den Söldnern auf dem Rasen gehadert haben, bilden sie nun eine echte Einheit mit der Mannschaft

AUS GELSENKIRCHEN DANIEL THEWELEIT

Andreas Müller glaubt, dass es die Fans waren, die den Tabellenführer und Meisterschaftsanwärter Schalke 04 zur Welt gebracht haben. Geburtsdatum: 5. November 2006. Damals, im Heimspiel gegen Bayern München, verweigerten die Zuschauer dem Team in Anspielung auf das Gründungsjahr des Klubs für 19 Minuten und vier Sekunden die Unterstützung. Sie waren unzufrieden, warfen den Spielern mangelnde Identifikation vor, auf einem Transparent stand: „Schalke ohne Leidenschaft – ihr macht uns sprachlos“.

Doch just als die Minuten des Schweigens abgelaufen waren, als sich die schweigende Arena in einen tosenden Vulkan verwandelte, holte Levan Kobiashvili zu einem Schuss aus und traf in den Winkel. Nach 19 Minuten und 10 Sekunden. Selten wurde die Macht der Fans derart eindrucksvoll zur Schau gestellt. Selbst Oliver Kahn sprach von einem „unvergesslichen Ereignis“, und Schalkes Manager Müller sagt rückblickend: „Das war die Geburtsstunde dieses Teams, von da an lief die Saison in die richtige Richtung.“

Dabei stellt diese denkwürdige Episode nur einen Akt in dem Drama dar, das die Schalker Fans in dieser Saison verfasst haben und das am morgigen Samstag beim Derby in Dortmund seinen Höhepunkt erreicht. Die These, dass ein stetiger Entfremdungsprozess zwischen den Fußballern und ihren Bewunderern stattfinde, gilt seit Jahren als traurige Wahrheit. Auf Schalke kann davon keine Rede sein. Ohne die bemerkenswerte Annäherung zwischen Fans und Mannschaft wäre der Klub vermutlich längst ausgeschieden aus dem Titelrennen.

Seit der Eskalation des Konfliktes vom November gab es mehrere Treffen von Spielern aus dem Mannschaftsrat mit Fanvertretern. „Die Fans haben die Möglichkeit gehabt, den Spielern zu sagen, was sie stört. Und die Spieler konnten erklären, warum etwas nicht läuft. Das ist sehr fruchtbar gewesen“, sagt Rolf Rojek, der Vorsitzende des Schalker Fanklubverbandes. Und weil den Spielern seit dem Schlüsselerlebnis aus dem Bayern-Spiel tief im Inneren klar ist, wie einflussreich der Anhang ist, haben sie genau zugehört. Es gab einen Schulterschluss, auch gegen Teile der Medien, die ja damals von den Spielern boykottiert wurden.

Seither sind alle Beteiligten fast rührend um ein konstruktives Klima bemüht. Der harte Kern der Fans passt beispielsweise akribisch auf, dass missgünstige Zuschauer sich nicht explizit gegen einzelne Spieler wenden. Als Hamit Altintop im März bekannt gab, er werde ab der kommenden Saison für die Bayern spielen, wurde er von Teilen des Publikums heftig ausgepfiffen, die organisierten Fans verfassten einen offenen Brief und distanzierten sich von diesen „Pfeifern, Nörglern und Meckerfritzen“. Das hat erstaunlich gut funktioniert. „Nach dem Brief hat keiner mehr gegen Altintop gepfiffen“, sagt Rojek. „Die Fans reklamieren ja immer die Nummer 12 auf dem Trikot. Wenn man Teil der Mannschaft sein will, dann steht es einem nicht zu, einen Spieler fertig zu machen.“ Altintop blühte plötzlich auf, und im Publikum entwickelt sich ein Bewusstsein für das zerstörerische Potenzial der eigenen Reaktionen. Müllabladen unerwünscht.

Überhaupt seien die Zuschauer gereift auf Schalke, findet Oberfan Rojek. Wo im Jahr 2005 schon nach 20 Minuten ohne Schalker Tor in der Arena gepfiffen wurde, harren die Leute nun geduldig aus, singen sich wie in den zähen Partien gegen Cottbus oder Nürnberg ihre Angst von der Seele und versuchen unter allen Umständen positiv zu bleiben. Es gibt nun dieses gemeinsame „Wir“ mit einem gemeinsamen Ziel. Die Trennung zwischen den Söldnern da unten auf dem Rasen und den echten Schalkern in der Nordkurve hat sich aufgelöst. „Die Zuschauer machen das richtig gut mit im Moment“, findet auch Christian Pander, es hat sich ein weitreichendes Verständnis füreinander entwickelt. Der Anhang geht nachsichtiger mit Launen, mit sensiblen Reaktionen der Spieler um, und die Fußballer haben einen Einblick in die Gefühlswelt der Fans erhalten. Die abstrakten Begriffe „der Fan“ (Rudi Assauers Lieblingsfloskel) und „der Spieler“ wurden abgeschafft.

Nur in Bochum vor zwei Wochen ging es ein bisschen zu weit. Da haben die Schalker Fußballer sich von der hingebungsvollen Performance des Anhangs irritieren lassen. „Wir wurden euphorisch, weil da 10.000 Leute waren, die eine Riesenstimmung gemacht haben“, sagt Fabian Ernst, „davon haben wir uns beeinflussen lassen und waren nicht mehr so konzentriert, wie das eigentlich sein sollte.“ Offenbar ist der Gewöhnungsprozess noch nicht ganz abgeschlossen, doch wenn Schalke 04 am Ende tatsächlich Meister werden sollte, wäre der Anteil der Fans am Erfolg größer als bei den meisten anderen Klubs, wo das Publikum unterstützt, anfeuert, aber nur selten inhaltlich aktiv wird.