Der Bauch muss frei sein

Die Debatte über Dicke und deren Essverhalten läuft Gefahr, in repressive Körperpolitik auszuarten und nur schlechte Laune zu machen. Was wir essen, sollte in erster Linie unsere Privatsache bleiben

VON BARBARA DRIBBUSCH

Es geht nur um Fett – doch die Substanz bestimmt inzwischen die offene und heimliche Körperpolitik in Deutschland, als wäre nichts anderes bedeutsam. Bundesverbraucherminister Horst Seehofer (CSU) bezeichnete gestern Übergewicht und Fehlernährung als „eine der größten Herausforderungen“ der Gesundheitspolitik der kommenden Jahre. Vorbeugung sei hier besonders wichtig. „Prävention ist bekanntlich die beste Medizin.“ Aha. Essen als „Medizin“. Das lässt aufmerken.

Nun kann man nichts dagegen sagen, dass die Esswaren in Schulkantinen weniger Zucker und Fett enthalten sollten. Auch der Gedanke, besonders fett- oder zuckerhaltige Lebensmittel mit Warnschildern zu versehen, ist richtig. Aber hier zeigt sich schon die Beschaffenheit des Fett-und-Zucker-Diskurses: Er ist mehrschichtig wie eine Sahnetorte. Aufgeklärte Eltern wissen heute schon genau, dass süße Kekse mit Schokolade nicht gesund sind, auch wenn man den Calciumgehalt eines Glases Milch irgendwie in die Süßigkeit einarbeitet und damit wirbt. Die großen Warnschilder sollen vor allem die weniger Gebildeten erreichen. Wir müssen was tun für die dicke Unterschicht!

Tatsächlich ernähren sich sozial schwächere Familien im Schnitt schlechter als die besser Gestellten. Man könnte aber dennoch sagen: Ernährung ist Privatsache. Jeder hat ein Recht auf das eigene Körperfett. Erst recht die ohnehin schon gebeutelte Unterschicht. Häufig wird zwar argumentiert, dass Übergewichtige häufiger kränkeln und damit die Sozialkassen stärker belasten. Übergewichtige sterben aber auch früher und sind damit billiger für die Rentenkassen – zynisch gesprochen.

Vielleicht geht es also gar nicht nur um die Gesundheit. Körperpolitik mahnt, tadelt und normiert. Genau deswegen berichteten die deutschen Medien groß über eine inzwischen umstrittene internationale Studie, nach der die Deutschen heute im Schnitt die dicksten Europäer sind – noch vor den Griechen und Italienern, wo man sich doch früher hierzulande immer gerne über die dicken italienischen Mamis lustig machte. Wir die dicksten Europäer! Dieses Ranking kränkt die nationale Seele.

Fast 40 Millionen Menschen in Deutschland sollen übergewichtig sein, ein Normenbereich, den eine jüngere 1,70 Meter große Frau dann erreicht, wenn sie mehr wiegt als 70 Kilogramm. Eine Frau ab 40 Jahren gelangt erst mit mehr als 78 Kilogramm über diese Grenze. Ein Mann mit einer Größe von 1,85 Zentimetern gilt mit mehr als 88 Kilogramm als übergewichtig. Fast die Hälfte der Bevölkerung als übergewichtig und damit irgendwie ungesund zu bezeichnen, sagt aber auch etwas aus über die Maßstäbe, die da angelegt werden. Sie richten sich gegen die Menschen.

Zudem steigt in einer alternden Gesellschaft das Durchschnittsgewicht automatisch. Wir alle nehmen mit den Jahren zu. Inzwischen gibt es schon Meditationsstrategien der „inneren Akzeptanz“, mit deren Hilfe die Übenden lernen sollen, die mit den Jahren schwellenden Rollen um die Hüften innerlich „anzunehmen“.

Das Zu- und Abnehmen, das Schwellen und Schrumpfen, ist zu einer Obsession geworden. Davon künden Diätshows, Berichte über Prominente in ihrem Kampf gegen die Fettdepots oder die Magersucht, je nachdem. Ein Drittel der Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren wäre gerne dünner, ergab eine Umfrage der Körperpflegemarke Dove. Ein paar Kilo zuzulegen wird im Zeitalter der bauchfreien Mode als persönliches Versagen empfunden. Schlanker zu sein als zuvor hat sich gleichzeitig zur wichtigsten Vitalillusion entwickelt.

Der Antifett-Diskurs drückt auf die Stimmung, ein Paradox der Körperpolitik. Und nicht das erste. Schon der französische Sozialphilosoph Michel Foucault machte darauf aufmerksam, dass die angebliche Befreiung des Sexuellen nur noch zu mehr Kontrolle und Normierung führt und die Lust tötet. Auch die politische Mahnung, die Zufuhr von Fett, einem natürlichen Geschmacksverstärker, und von Zucker, der die Nerven beruhigt, zu vermindern, wird nicht zur Folge haben, dass die Leute dünner werden. Die Beschäftigung mit Fett und Zucker entwickelt sich zum kollektiven Zwang.

Sozial schwachen Kindern zu besserem Essen zu verhelfen, und zwar konkret und nicht nur mit Appellen, das bleibt immer noch ein richtiges und wichtiges Anliegen. Der Rest aber ist hausgemachte Hysterie.