Die Fiktion der Liebe

Ein Herz für junge Schnösel: Selten wirken die Helden von Goethe und Shakespeare so heutig wie unter der Regie von Jan Bosse. Er ist gleich zweimal zum Theatertreffen eingeladen. Ein Porträt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Ausgerechnet Goethe. Vier Stoffe von ihm hat Jan Bosse seit 1999 inszeniert und dabei für den „Faust“, den er 2004 am Schauspielhaus Hamburg mit Edgar Selge in der Hauptrolle, und für den „Werther“, mit dem er jetzt zum Theatertreffen eingeladen ist, große Anerkennung erfahren. „Dabei dachte ich eigentlich, dieser Autor ist mir dichterisch zu sauber. Der Perfektionswahn dieses Großliteraten hat mich immer nervös gemacht“, sagt Jan Bosse. Und dann das verkorkste Frauenbild des Dichters, „seine Frauenfiguren kommen so klischeehaft daher, die kann man kaum noch erzählen“, stöhnt er. Wie es aber dazu kam, dass er mit dem dicksten Brocken aus der bildungsbürgerlichen Schatztruhe dennoch warm wurde, kann er auch gut erklären: Er hat eine Schwäche des Dichters entdeckt. „Fast habe ich das Gefühl, dass es Goethe passiert ist, dass er das Chaos trotz seiner Formvollendung nicht besiegen kann. Das Unheimliche, das Irrationale ist trotzdem da.“ Und damit ringen die Goethefiguren, wie sie Bosse auf die Bühne schickt, vor unser aller Augen.

Wir sitzen bei dem Gespräch im nachmittäglich stillen Foyer des Maxim Gorki Theaters in Berlin. Oben auf der Bühne hatte sein „Werther“ Premiere, als das Theater im September 2006 unter dem neuen Intendanten Armin Petras gleich mit einem Dutzend neuer Inszenierungen startete. Es ist eine überaus konzentrierte und reduzierte Inszenierung; sie spielt fast durchweg an der Rampe, vor einer zutapezierten Bühne. Durchgängig brennt das Saallicht und lässt keine Trennung zu zwischen der Welt der Zuschauer und der von Werther, Lotte und Albrecht.

Dass man die drei als sehr reale und heutige Figuren begreift, die trotz einer Sprache, die ihnen manchmal quer im Mund liegt, nichts von literarischen Kunstfiguren haben, gehört zu den erstaunlichen Leistungen dieses Regisseurs. Bosses Werther, von Hans Löw gespielt, ist sich selbst etwas peinlich in der steten Suche nach Ich-Vergrößerung und Verschmelzung mit der Welt, und dabei sehr charmant in seiner Verlegenheit. Er ist ein narzisstisch veranlagter Schnösel, durchaus verwandt mit dem Hamlet, wie ihn Joachim Meyerhoff in Bosses Regie in Zürich auf die Bühne brachte. Und beide reden, je unsicherer sie sich selbst sind, umso heftiger mit dem Publikum. Werther verliebt sich, nicht nur in Lotte, sondern auch in die Unmöglichkeit dieser Liebe – weil das Unmögliche jene Größe hat, die eine von allen akzeptierte Liebe niemals haben kann. Die Lotte von Fritzi Haberlandt sieht sich zwar gerade durch diese Komplexität angezogen, ist aber zu klug, darauf eine Lebensplanung zu bauen.

Jan Bosse ist noch mit einem zweiten Stück zum Theatertreffen eingeladen und auch das dockt an am Status des Singles in der Gegenwart und der Bedeutung der Fiktion der Liebe für die eigene Identität: „Viel Lärm um nichts“ von William Shakespeare. Bosse hat es 2006 am Burgtheater Wien inszeniert, als großes Ausstattungsstück für eine große Bühne. Drei Männer kehren von der Front zurück und den Ort, an dem sie die Liebe für möglich halten, beschreibt Jan Bosse als eine „Freizeitparadieshölle“, ein „Kitsch-Tropical-Island“. Dass nur noch in dieser Welt des falschen Scheins Wünsche und Bedürfnisse in Erfüllung gehen, wenn auch nur unter den Bedingungen von Betrug und Manipulation, ist bei aller komödiantischen Leichtigkeit auch die eigentlich brutale, ja fast zynische Wahrheit dieser Inszenierung.

„Das ist ein böser, ein schwarzer Humor, den ich interessant finde“, sagt Jan Bosse, doch gerade darin wird er oft unterschätzt. Als ob die Leichtigkeit, mit der er Texte von Shakespeare, Goethe, Thomas Bernhard oder Werner Schwab verstehen lässt, vergessen ließe, was er da eigentlich für eine Geschichte erzählt. Gelegentlich wird ihm vorgeworfen, zu brav zu inszenieren, als ob er sich mit der Unterhaltsamkeit seiner Erzählweisen verdächtig gemacht hätte.

Jan Bosse ist 1969 in Stuttgart geboren und studierte Regie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Mitte der Neunziger wurde dort noch ein ostbestimmtes Theaterbild vermittelt, anders, als es ihm vorschwebte. Zum Ausgleich sah er sich viele Gastspiele an, zum Beispiel der flämischen Theatermacher. „Ein riesiger Spagat, eine große Verwirrung“, so erinnert er die Schulzeit, die auch unter dem Zwang stand, ständig zu formulieren, was man will. Das war gut, denkt er heute. Denn er hat schnell seine eigene Linie gefunden. Schon Ende der Neunziger führte er an den Münchner Kammerspielen Regie, war dann fünf Jahre Hausregisseur am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Dass er jetzt als freier Regisseur arbeitet, der zweimal im Jahr Stücke am Berliner Gorki Theater, einem vergleichsweise kleinen Haus, machen möchte, empfindet er auch als ein „back to the roots“.

Was viele seiner Inszenierungen miteinander verbindet, ist eine doppelte Forderung, die er an die Schauspieler und die Figuren stellt: sich dem Publikum zu erklären. „Der Schauspieler muss sich fragen, was bedeutet es, dass es oben und unten gibt, oben die Bühne, unten das Publikum. Was bedeutet es, dass einer da hochgeht, um anderen von sich und der Welt zu erzählen.“ Damit wird das Theater auch zu einer Metapher für die Hierarchien der Gesellschaft und das ist ein grundsätzlich anderer Ansatz als der Versuch der Auflösung aller Hierarchien und zentralsierender Strukturen etwa bei den Volksbühnenleuten oder in den Inszenierungen von Jürgen Gosch. Bosses Figuren, wie Werther oder Faust, plagen sich zudem mit der Frage, „reicht das, was ich hier erzähle; komme ich damit über mein Ich hinaus?“ So werden aus Monologen und Dialogen Mitteilungsversuche an das Publikum, voller Fragen der Figuren an sich selbst, auch wenn sie darauf keine Antworten wissen. Nur so, denkt Bosse, öffnen sich die Texte und werden zu mehr als Bildungsgut.

Wie verblüffend das funktionieren kann, sieht man auch an seinen „Präsidentinnen“, einem Stück von Werner Schwab, das Bosse 2005 in Zürich inszeniert hat. Das Gorki Theater hat die Inszenierung inzwischen gekauft. Wieder wird, mindestens das halbe Stück lang, nah an der Rampe gespielt, an der Bosses langjähriger Bühnenbildner Stéphane Laimé einen gigantischen Altar voller Nippes, Kitsch und Müll aufgebaut hat. Drei Frauen sitzen in seinen Nischen wie Heilige und was sie von sich erzählen, hat ebenso viel von Märtyrertum wie von Ignoranz und Grausamkeit. Drei im Leben Zukurzgekommene, die über den berechtigten Forderungen nach Glück Scheuklappen demgegenüber angelegt haben, was sie anderen antun. Unentwegt kämpft man dabei als Zuschauer mit den eigenen Gefühlen, denn sie hätten doch in ihrer Geschundenheit all unsere Anteilnahme verdient; wären sie bloß nicht so schrecklich selbstgerecht. Indem er uns in diesen emotionalen Zwiespalt zieht, verhindert Bosse das berüchtigte „sich über die Figuren stellen“, was von ihm und anderen jungen Regisseuren zurzeit als Feindbild gezeichnet wird.

Werner Schwab ist auch schon tot. Es scheint, als ob ein gewisser historischer Abstand die Distanz ist, aus der Bosse sicherer auf die Gegenwart zielen kann, als mit neuen Bühnenstoffen. Auch das hat ihm den Ruf des Liebäugelns mit Traditionen eingetragen.