24 stunden spreebogen, folge 2
: Von 1 bis 2 Uhr

Pfützen liegen auf den Straßen. Sich bewegende Lichtkegel beleuchten vom Hauptbahnhof her dichte Wolken, die ein kräftiger Wind über das Regierungsviertel treibt. Nur vereinzelt Autos, Fahrräder, Polizisten. Oder, um einen Satz zu bemühen, den in diesen schönen Radiosendungen von Bob Dylan immer eine belegte Frauenstimme im Vorspann sagt: It’s night time in the big city.

Die Kraftlinien dieser Republik, von denen Joschka Fischer mal behauptete, sie würden durchs Kanzleramt führen, sind aber noch nicht alle schlafen gegangen. Zwei dunkle Limousinen warten mit Standlicht vorm Paul-Löbe-Haus. Und im Büro der Kanzlerin brennt noch Licht. Ich stehe auf dem freien Platz vor dem Reichstag. Eine bunte Schar freundlicher Gesichter strahlt, kräftig von hinten beleuchtet durch den Nieselregen – eine kreisrunde Fotoinstallation, die für Europa wirbt. Der Reichstag wirkt, als würde er in sich ruhen; freundlich grüßt die beleuchtete Kuppel auch noch in so einer ungemütlichen Stunde. Das Paul-Löbe-Haus hat dagegen etwas von einem schlafenden Raubtier. Oder von einem Raumschiff in Stand-by-Funktion. Es hat etwas Nervöses, Atmendes in seinen Glasfassaden, und man ahnt, wie sich tagsüber die politische Hektik in ihm ausbreiten wird.

Das Kanzleramt aber ist ein Gebäude, das dich anguckt in der Nacht. Es glimmt von innen. Und die Konstruktion der Sonnensegel auf der Prachtseite verleiht dem gewaltigen Klotz entfernt die Anmutung eines allerdings nicht eindeutigen Gesichts – wie jemand, der dich einladend anblickt und zugleich abwehrend die Augenbrauen zusammenzieht. Seltsam. Seltsam auch, wie einen dieses beleuchtete Kanzlerinbüro doch berührt. Als ich früher Taxi gefahren bin, mochte ich immer diese einsamen, verregneten Momente mitten in der Nacht. Wahrscheinlich aber können sich Kanzlerinnen einen Sinn für die Nighthawks-Atmosphäre so einer Stunde gar nicht leisten. DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel in der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. Karsten Thielker begleitet die Reihe fotografisch. Das Ganze begann um Mitternacht und wird 24 Folgen umfassen, bis ein Tag umschritten ist. – Von 2 bis 3 Uhr: am kommenden Samstag