Explosive Mischung

Ein Gespräch mit Anja Salomonowitz über ihren Film „Kurz davor ist es passiert“, für den sie die Leidensberichte von Frauen, die zu Opfern von Menschenhandel wurden, künstlerisch bearbeitet hat

Anja Salomonowitz’ Film „Kurz davor ist es passiert“ ist ein eigenwilliger Film über Frauenhandel und die Lebensrealtität von illegalisierten MigrantInnen, der dokumentarisches und künstlerisches verschränkt. Er hat den Wiener Filmpreis der Viennale 2007 erhalten und den Caligari-Preis der Berlinale. Bevor er kommende Woche in die deutschen Kinos kommt, läuft er am Sonntagnachmittag in der Berliner Volksbühne im Rahmen des „Gipfels der Integration“, eines großen Themenwochenendes zu Migration und Fragen der kulturellen Zugehörigkeit. Schorsch Kamerun und Andreas Fanizadeh haben das Veranstaltungswochenende organisiert. Neben vielen anderen Programmpunkten werden am Samstagabend Günter Wallraff, der Schriftsteller Imran Ayata, der Streetworker Neco Celik und die Managerin Kadriye Cigir darüber sprechen, wo heute „ganz unten“ ist. Brigitte Kuster wird einen Vortrag über die Bilder halten, die man sich in Europa von den Außengrenzen macht. Am Sonntagabend wird Schorsch Kameruns Stück „Der kleine Muck ganz unten – die Welt zu Gast beim Feudeln“ aufgeführt.

INTERVIEW DOMINIK KAMALZADEH

taz: Frau Salomonowitz, in „Kurz davor ist es passiert“ werden die Leidensberichte von Frauen, die zu Opfern von Menschenhandel wurden, von Personen gesprochen, die mit den Geschichten nur sehr indirekt zu tun haben. Das zeugt vor allem einmal von Skepsis gegenüber herkömmlichen Darstellungsweisen. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Anja Salomonowitz: Die Idee stammt eigentlich aus meinem letzten Film „Das wirst du nie verstehen“, in dem es um meine Großmütter geht. Ich habe mit meiner jüdischen Großmutter ausgemacht, dass sie darin nicht über Auschwitz sprechen muss. Ganz am Ende des Drehs wollte ich sie noch einmal aufnehmen, da wollte sie aber nicht mehr, also habe ich sie angerufen und mich dabei gefilmt. Ich dachte mir, es sei eine gute Möglichkeit, Überlebende des Holocaust aufzunehmen, wenn man dabei das Gesicht eines anderen sieht. Die Emotionen laufen über ein anderes Gesicht, aber die Geschichte wird trotzdem festgehalten.

Wäre es überhaupt möglich gewesen, die Frauen für „Kurz davor ist es passiert“ zu filmen? Oder ging es Ihnen von Anfang an um diese Strategie der Verfremdung?

Ich hätte nicht filmen dürfen. Aber selbst wenn man mir das angeboten hätte, hätte ich abgelehnt. Das würde mich nicht interessieren. Ich wollte die Gegner der Frauen, deren Geschichten sprechen lassen. Der Zöllner, der Kellner, die Nachbarin – sie sind den Frauen nicht verbunden. Es ging um die Spannung, dass da jemand spricht, dem die Geschichte auf keinen Fall passieren kann. Der sogar Gegner ist und dem ich zumute, sich mit Trafficking beschäftigen zu müssen. Diese Mischung finde ich explosiv. Außerdem wollte ich über Machtverhältnisse sprechen. Weil die Protagonisten niemals in eine vergleichbare Situation wie die Frauen kommen können, treten die Machtverhältnisse umso klarer hervor.

Nach welchen Kriterien wurden die Figuren ausgewählt? Ging es um Schlüsselpositionen?

Wichtig war, dass die Figuren in den Geschichten immer selbst vorkommen. Wenn es einen Zöllner gibt, hab ich nach einem Zöllner gesucht. Weil es nun ein wirklicher Zöllner ist, kann es theoretisch passieren, dass in dem Moment, in dem er seinen Text sagt, ein Auto vorbeifährt, in dem eine Frau geschmuggelt wird. Oder er sich das auch nur so denkt. Oder wenn der Kellner sagt, er tanze jede Nacht auf diesen Tischen, dann könnte das genau der Tisch der Frau aus seiner Geschichte sein. Dieses Aufeinanderprallen gefiel mir. Aber der Film ist immer ein wenig mehr als die Summe seiner Teile. Es gibt auch ein Geheimnis dieses Zusammenwirkens, das ich gar nicht klar benennen kann. Die Personen bleiben vollkommen in ihren Alltag integriert, in dem sie sich dann gleichsam selbst spielen.

Wenn die Personen zu sprechen beginnen, ist das wie ein Riss in der Illusion des Films. Verstehen sie diese Momente als Interventionen?

Ich wollte, dass es aus den Leuten herausbricht. Dass es einen Schnitt gibt, und ein zweiter Film entsteht. Sodass man auch immer zwei Geschichten gleichzeitig sieht. Auch die Fehler, wenn sich der Kellner den Kopf stößt oder der Zöllner vertippt, sind solche Störmomente, die ich bewusst gesetzt habe. Die sind in der Recherche auch passiert, also nicht erfunden.

Aus den Fällen ist dagegen fast jede Singularität getilgt worden. Liegt für Sie das überzeugendere Argument in der Allgemeinheit einer Aussage?

Es ist mir schon öfters passiert, dass jemand zu mir gesagt hat, diese Geschichten kenne man doch schon alle. Genau das gefällt mir aber so gut daran. Das ist genauso, wie wenn man sagt: „Schon wieder ein Film über die Nazizeit.“ Diese Geschichten sind ja nur fürchterlich. Ich will keine hervorheben, die etwas Besonderes hat. Ich will sie nur anders zeigen, damit man sie anders sehen kann.

Die Geschichten anders zu zeigen, heißt dann also, strukturelle Zusammenhänge aufzuzeigen, gegenläufig zu herkömmlichen dokumentarischen Methoden?

Viele Filme, die von vergleichbaren Fällen erzählen, erschöpfen sich darin, Empathie hervorzurufen. Die bringt den Frauen aber nichts. Sie brauchen Rechte. Es geht also um die Bedingungen und Mechanismen, die dazu führen, dass solche Geschichten überhaupt erst entstehen. Das Muster, nach dem die Geschichten ablaufen, ist stark mit der Gesetzeslage verknüpft. Zum Beispiel erzählt der Kellner von einer Frau, die ein Tänzerinnenvisum bekommt. Die Beamten, die dieses Visum ausgestellt haben, wissen genau, dass die Frauen nicht als Tänzerinnen arbeiten. Ich wollte einen Film über strukturelle Gewalt machen, der einen trotzdem emotional mitnehmen kann.

Die Orte des Films – die Grenze, die Dorfstraße, das Bordell – werden wie Tatorte inszeniert. Manchmal mit Handkamera, wie in einer Szene aus einem Horrorfilm. Sehen Sie das auch so?

Das Wichtigste sind eigentlich die Orte, sie sind alle authentisch. Es sind lauter Orte, an denen Menschen festgehalten werden können. Der Film funktioniert nur mit Originalschauplätzen. Die Horrorfilm-Elemente hab ich benützt, um das Gefühl zu evozieren, dass ständig etwas passieren könnte. Die Geschichten der Frauen schwirren herum, sind aber eigentlich nicht zu sehen. Deswegen schleicht die Kamera so herum. Das Böse ist da, aber es bleibt unsichtbar.

Die starren Einstellungen sind hingegen sehr streng komponiert, sodass der Raum recht hermetisch wirkt.

Ich hab den Film mit Jo Molitoris gedreht, einem Kameramann, der aus der Werbung kommt. Mir war wichtig, dass die Bilder etwas Gelacktes haben. Seine Idee war dann, den ganzen Film mit zwei Kameras zu drehen, so als würde man alles mit zwei Augen beobachten. Die Menschen, die die Texte sagen, würden dann sozusagen unter Beobachtung stehen. Das hat mit sehr gut gefallen, hat aber beim Schnitt dann anders ausgesehen. Ich wollte immer, dass man zwei Filme gleichzeitig sieht. Den auf der Leinwand, mit den Personen, die die Texte sprechen, und gleichzeitig den, der gleichsam vor der Leinwand ist und den man sich nur vorstellen kann. Wie wenn man ein Buch vorgelesen bekommt.