frau schwab geht unter Leute
: Auf dem Bebelplatz, der neuerdings ein modernes Amphitheater ist

Es fängt mit ein wenig Neid an. „Und deine Cousine sitzt jetzt schön drinnen“, stöhnt ein Mann, der es sich auf dem Sockel des Zaunes vor der Humboldt-Universität mit Frau und Kind bequem gemacht hat, um Anna Netrebko die Manon singen zu hören. „Staatsoper für alle“ heißt das Event. Die letzte Vorstellung an diesem Samstag wird aus der Oper nach draußen auf den Bebelplatz übertragen. Und alle sind da. „20.000“, ruft Alfred Biolek, der Moderator, voll Enthusiasmus ins Mikrofon. So viele, dass sie ungeplant die Straße zwischen Platz und Humboldt-Uni Schritt für Schritt einnehmen, während auf der Großleinwand der Chevalier Des Grieux das Herz der schönen Manon erobert. Am Ende sperrt die Polizei weiträumig ab und lässt das Volksfest, auf dem die Menschen nur eine Blickrichtung kennen, zu. Trotz abendlicher Sonne ist alles auf der Leinwand zu erkennen. Auch der Ton ist perfekt.

Und die Berliner und Berlinerinnen erst: Endlich tragen sie zu den hellblauen Augen auch die hellblauen Schuhe, zum beigefarbenen Kittel die Stola Ton in Ton. Statt Baseballkäppi stecken Federn im Haar. Es gibt Männer, die ihren Partnerinnen den Arm bieten; es gibt Stiernacken, die sich wie Lämmer verhalten. Es gibt Frauen, die drei Stunden in hochhackigen Sandalen auf dem gepflasterten Platz ausharren. Und solche, die im langen Samtkleid den Sehnsuchtschic der Hauptstädterinnen tragen, der opulent auch über die Opernbühne schwebt. Denn Manon, die Heldin, entwickelt, nachdem sie Des Grieux wegen eines anderen verlassen hat, eine Neigung für großen Luxus. Auf dem Pariser Volksfest singt sie sich in einen Ich-bin-so-schön-Wahn. Als sie fertig ist, wird sie nicht nur dort, sondern auch auf dem Berliner Volksfest beklatscht. „Mein Gott“, sagt ein Mann. „Die hat schon eine Stimme“, meint eine Frau. „Ja, brutal“, antwortet ihre Freundin.

Die Gespräche unter den Leuten auf dem Bebelplatz, so nebenbei, liegen wie leichtes Schwingen in der Luft. „Komm mir jetzt nicht mit der entlaufenden Katze“, sagt ein Vorbeilaufender, als auf der Leinwand der verlassene Held Des Grieux sich aufmacht, Priester zu werden. „Ich geh bei Rot nicht über die Ampel, ich halt mich an die Regel“, erklärt ein Mann im Anglerstuhl seiner Partnerin, während Manon sich doch sehnsuchtsvoll an ihren Ex erinnert und ihn im blutroten Kleid vom Priesteramt abbringen will. „Den ganzen Tag schon versuchst du mir die Schuld zu geben“, ist wiederum von einer Frau zu hören. Sie hat es sich mit einem Partner auf einer Decke auf dem Boden bequem gemacht. Derweil geht die Sonne hinterm Brandenburger Tor unter und lässt Friedrich auf seinem Pferd, der Unter den Linden steht, als schwarze Silhouette zurück. „So would you call Hegel an existentialist“, räsoniert jemand, während Manon des Falschspielens beschuldigt wird. So geht das drei Stunden.

Immer wieder drängen sich Menschen durch die Reihen. Ganz leicht. Einmal treffen sich zwei Frauen. „Hilf mir auf die Sprünge“, sagt die eine. „Anne, Exfreundin von Edith“, antwortet sie. „Wenn du sie siehst, grüße sie.“ Da mischt sich der Mensch daneben ein: „Das stört.“ Verständlich, schließlich fiebert die Menge dem Finale entgegen. Manon stirbt in Des Grieuxs Armen. Da wird es ganz ruhig auf dem Platz. „So liebe ich Berlin“, ruft jemand in der Sekunde, bevor der Applaus tobt. WALTRAUD SCHWAB