Das Leben im Zurücklegen

Alle, die mit uns auf Rallyefahrt gehen, müssen Menschen mit Zeitschleife sein

Sie müssen entschuldigen, wenn meine Handschrift etwas ruckelt, ich sitze hier gerade auf dem Beifahrersitz eines Pkw, der eine kurvenreiche türkische Bergstraße entlangrast, mit 55 km/h. Nein, ich weiß, Sie lesen das gedruckt, weil die guten Geister von der taz es abgetippt haben, aber das handschriftliche Manuskript kam per Brieftäubchen bei ihnen aus Lüleburgaz an. Ja, es ist wahr: Ich nehme gerade an einer, nun, Rallye teil, mehr so eine Art interkontinentale Orientierungsfahrt. Noch schnell, solange man für so etwas noch nicht, wie es sich eigentlich gehörte, in Klimaschutzhaft kommt (Martin Unfried, have mercy on me; ich habe allerdings Dinge gesehen und gerochen in diesen vier Tagen seit dem Start, die geeignet sind, mir die eine oder andere verbliebene Resthoffnung auf etwaige Wändel zu nehmen; ich weiß: Miesmachen gilt nicht), schloss ich mich einer Gruppe von Automobilisten zur „Kulturrallye Allgäu–Jordanien“ an. In knapp acht Tagen ist von Oberstaufen nach Amman zu fahren, bei freier Streckenwahl, in alten, auf Vordermann gebrachten Autos. Das sind über Österreich, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die Türkei und Syrien knapp 5.000 Kilometer, und das zieht sich, weil wir freilich keine Autobahnen benutzen dürfen.

Ein Wunschziel der Übung ist, dass man auf dem langen Treck über Kleinstädte und Dörfer, belegt mit „völkerverbindenden“ Sonderaufgaben und genötigt von technischen und Orientierungsschwierigkeiten, enger mit den Einheimischen und ihrem Alltag in Kontakt tritt als der gemeine Tourist. Allein, es gibt kein Verharren, weil täglich enorm viele Kilometer gefressen werden müssen. Es ist ein einziges Weiter, ein Enteilen. Ein Leben im Zurücklegen, der Imperativ ist Fortbewegung. Wie im Relativitätsraumschiff gleiten wir dahin, während draußen vor dem Fenster die Welt langsamer zu werden scheint. Eine Familie macht Pause am Straßenrand, verwaschene Anoraks und gegerbte Gesichter, das Pferd vorm Wagen grast am Bankett; fahrendes Volk – wie wir, diese paar Tage, wenngleich in einer völlig anderen Zeit- und Realitätsebene.

Diese Leute haben unter Umständen noch nie das Innere eines Automobils gesehen, und ich rausche hier durch in einem Strom von P- und Lkw, mit einem Laptop auf den Knien und tippe rein, dass da gerade eine Familie gesessen hat aus dem Spätmittelalter, und morgen steht’s in der Zeitung, weil der Kollege es später, wenn irgendwo „Netz hergeht“ noch per Wireless Pipapo rausbeamt (ja, das Täubchen war gelogen). Ungarn und der Balkan flimmern am Beifahrerfenster vorbei, durchschnittlich 60 Kilometer und 1001 Anblicke und Eindrücke pro Stunde, 12 Stunden am Tag.

Es ist ja kein leeres Klischee, die scheinen hier eine ganz andere Ethik des Fahrens zu haben. In den uns pervers erscheinenden Überholexzessen schwingt etwas Todesverachtendes, Tumbes, wohl aber auch kühler Realismus: Irgendwann hat man wohl einfach verinnerlicht, dass es erst Probleme gibt, wenn sich zwei Fahrzeuge berühren. Und sie berühren sich eben nicht, wenn man sieben Meter vor dem Gegenverkehr wieder zwischen zwei Lkw in seine Spur zurückschert; kein Thema, kein Grund für Adrenalinausstoß. Für mich: doch noch.

Umso angenehmer gestern unsere Ultrakurzbesichtigung des alten rumänischen Klosters Cozia am Wegesrand. Wir gönnen uns einen Flecken Ruhe – und dann machen die da eine Hektik! Der seufzende Pope hat draußen gerade eine Autosegnung fertig und geht seufzend in die Kirche hinein (ja, der Mann Gottes seufzt immer wieder gramvoll, da werden irgendwie falsche Signale gesendet, find ich) und eine Familie steht drin mit ihrem Kleinkind, für das sie offenbar mal eben die Taufe erbitten. Der Pope seufzt, geht in seine Sakristei, öffnet die Tür im Zentrum des Altars, knipst einen Lichterkranz an, hängt sich eine Stola um und tauft bzw. segnet drauflos. Dauert zwei Minuten. Dann is’ fertig, er macht die Tür wieder zu, seufzt und knipst das Licht wieder aus. Das ging ja flott. Apropos: Wir mussten dann schnell weiter.

JOSEF WINKLER über ZEITSCHLEIFE

Fragen zum Überholen? kolumne@taz.de Morgen: Jan Feddersen PARALLELGESELLSCHAFT