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: Unablässiger Redeflow des Cool

Quentin Tarantino gibt „Death Proof“ die Anmutung einer ziemlich lädierten, zu oft abgespielten Filmkopie

„Das Reich der Schönheit ist um vieles größer als die Welt der Moral.“ Diesen Satz rappen ein paar Jugendliche aus Tokio in dem Dokumentarfilm „Young Yakuza“. Der Film des französischen Regisseurs Jean-Pierre Limosin läuft außer Konkurrenz und befasst sich in ruhiger, unvoreingenommener Beobachtung mit einem Tokioter Yakuza-Clan. Limosin folgt dem Neuling Naoki, einem 20 Jahre alten Schulabbrecher und Eckensteher, der im Clan auf Wunsch seiner Mutter Disziplin lernen soll; wie er, als Security-Kraft in einem Nachtclub, halb noch an seinem pickeligen Teenagergesicht leidet, halb schon die Coolness des Gangsters an den Tag legt, ist so sehenswert wie die Szene im Badehaus, in der die jüngeren den älteren Clanmitgliedern die Rücken waschen und dabei beeindruckt auf die farbenprächtigen Tätowierungen blicken. Einmal unternehmen die Gangster eine Art Betriebsausflug aufs Land. Wenn sie im Wasser planschen, erinnert dies an Takeshi Kitanos „Sonatine“: Dort verstecken sich die Gangster in einem Haus in den Dünen und tollen zum Zeitvertreib am Strand herum. Jenseits davon freilich hat der Alltag der Yakuza, wie ihn „Young Yakuza“ präsentiert, nichts vom Glamour der Spielfilme – auch Kriminalität ist Arbeit, Management und Hierarchie.

Zum Glück verhält es sich in Cannes bisweilen so, dass das Reich des Spaßes um vieles größer ist als die Welt der Ernsthaftigkeit – etwa dann, wenn ich „Go Go Tales“ sehe, Abel Ferraras Beitrag zum Mitternachtsprogramm, und gleich im Anschluss Quentin Tarantinos Wettbewerbsfilm „Death Proof“. „Go Go Tales“ ist eine durchgeknallte Komödie über den Nachtclubbetreiber Ray (Willem Dafoe). Sie spielt im Verlauf von 24 Stunden und verlässt den Schauplatz, den Club Ray Ruby’s Paradise, nur für ein paar Szenen. Ray ist pleite, er kann die Tänzerinnen nicht bezahlen, die Vermieterin genauso wenig. Die Tänzerinnen meutern, die Vermieterin setzt sich an die Bar und schimpft, Asia Argento in der Rolle einer der Tänzerinnen lässt ihren Rottweiler von der Leine, eine Sonnenbank steht in Flammen, und je mehr Ray unternimmt, sich aus dem Schlamassel zu retten, umso tiefer versinkt er darin. Am Ende der Nacht treten die Tänzerinnen nicht nackt oder halbnackt auf die Bühne, sondern stellen kleine, künstlerische Nummern vor, Zaubertricks, Balletttanz, Gesangsdarbietungen. Das ist so absurd, dass man spätestens jetzt begreift: Ferrara produziert umso weniger Sinn, je länger der Film dauert, und er tut dies mit voller Absicht. Er hat dabei keine Scheu vor simplen, lauten Gags oder vorhersehbaren Auflösungen, aber indem er die Schraube eine entscheidende Umdrehung weiterdreht, schlägt alles, was in einem anderen Kontext billig wirken könnte, in Charme um.

Charmant, sehr charmant ist auch „Death Proof“. Tarantino nimmt sich das Exploitation-Kino der 60er- und 70er-Jahre vor und macht daraus eine postfeministische Empowerment-Fantasie. Der wiederum verleiht er die Anmutung einer zu oft abgespielten Filmkopie: Sprünge auf der Tonspur, abrupt endende Szenen, das Bild vertikal durchlaufende Streifen suggerieren, dass dieser funkelnagelneue Film 30 Jahre alt ist. Es geht um schnelle Autos, schöne Füße, noch schönere und sehr schlagfertige Frauen und um einen Serienmörder, der sich im Laufe des Films als Weichei entpuppt. Dazu gibt es viele Filmzitate, sorgfältig ausgewählte Musik, blutige Action und vor allem: lange, lässige Dialoge. Der größte Genuss, den „Death Proof“ gewährt, besteht darin zu verfolgen, wie Tarantino seine Heldinnen reden lässt, während sie in Kneipen abhängen oder über Land fahren, wie er Akzente, Slang und Redeweisen so orchestriert, dass ein langer, nicht ablassender Redeflow des Cool entsteht. CRISTINA NORD