Der Tod ist groß, wir sind die Seinen

Am Sonntag ging in Cannes das 60. Filmfestival zu Ende. Es war so interessant wie düster. Ob es ein abgetriebener Fötus war wie im Gewinnerfilm „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ oder tote Gangster bei den Coen-Brüdern – immer ging es um den Tod

VON CRISTINA NORD

„Tod, Tod, Tod“. So lauten die letzten Worte in Ulrich Seidls Wettbewerbsfilm „Import Export“. Sie bilden den Schlussakkord eines chorischen Arrangements, aufgeführt zu nächtlicher Stunde im Mehrbettzimmer eines Altenheimes. Sechs Greisinnen reden, singen und murmeln in dem streng symmetrisch aufgenommenen Zimmer, bis sich das eine Wort aus dem Gewirr der Stimmen herausschält und in die abschließende Schwarzblende hineingetragen wird. Es ist ein starker Augenblick in diesem an starken Augenblicken reichen Filmfestival – und zugleich ein Resümee im Kleinen. Bei anderer Gelegenheit, bei der Pressekonferenz zu Fatih Akins Wettbewerbsbeitrag „Auf der anderen Seite“, sagte Hanna Schygulla etwas, was in eine ähnliche Richtung wies. Es habe sie sehr beeindruckt, dass und wie ein junger Regisseur sich in seinem Film mit Tod und Verlust befasse. Akin, gerade einmal 33 Jahre alt, erhielt für seinen um zwei Todesfälle herum aufgebauten Ensemblefilm am Sonntagabend den Preis für das beste Drehbuch. Ob Schygulla ahnte, dass der Tod eine Art Leitmotiv des Festivals bilden würde?

Obwohl es in diesem Jahr in Cannes des 60. Jubiläums wegen besonders festlich zuging, obwohl Spaß und Nonsens sich in einigen Filmen, etwa in denen von Quentin Tarantino und Abel Ferrara, fröhlich behaupteten, so stach doch eines hervor: Wie der Tod zum Leben gehört und zugleich daraus verbannt wird, wie Menschen damit umgehen, dass ihre Existenz endlich ist, wie sie damit auskommen oder daran verzweifeln, dass sie geliebte Menschen verlieren, das bildete den Handlungsrahmen erstaunlich vieler Filme. Was Rainer Maria Rilke vor gut hundert Jahren in seinem „Schlussstück“ dichtete, hätte dem Festival als heimliches Motto dienen können. „Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen / wagt er zu weinen / mitten in uns.“ So wie die Jury unter Vorsitz des englischen Regisseurs Stephen Frears die Preise vergab, wurde die Tendenz bekräftigt.

Der Gewinnerfilm, Cristian Mungius „4 luni, 3 saptamini si 2 zile“ („4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“), angesiedelt in einer rumänischen Provinzstadt in den späten Achtzigerjahren, verzichtet nicht auf den Anblick eines toten Embryos, dessen genaues Alter der Titel des Filmes verrät. Nach einer illegalen, peniblen Abtreibung liegt er, in ein Handtuch gewickelt, auf dem Boden eines Hotelbadezimmers. Otilia (Anamaria Marinca), die engste Freundin der ungewollt schwangeren Gabita (Laura Vasiliu), hat nun die Aufgabe zu erfüllen, den toten Embryo loszuwerden. „Spült ihn nicht ins Klo“, sagt der abtreibende Herr Bebe (Vlad Ivanov), ein Mann mit unverhohlen sadistischer Ader, bevor er das Hotelzimmer verlassen wird, „das verstopft garantiert.“ Gabita wünscht sich: „Beerdige ihn.“ In der folgenden Sequenz schweift Otilia ziellos durch Hochhaussiedlungen am Stadtrand, ohne zu wissen, was sie mit dem toten Körper tun soll. Die unscharfen, von der Handkamera erzeugten Nachtbilder steigern die ohnehin schon hohe Intensität von Mungius Film. Ein Müllschacht im zehnten Stock eines Plattenbaus und ein dumpfer Aufprall beenden schließlich Otilias Odyssee.

Auch in dem mit dem Großen Preis ausgezeichneten „Mogari no mori“ („Der Trauerwald“) geht es um den Tod. In dem Film der japanischen Regisseurin Naomi Kawase unternehmen die Altenpflegerin Machiko (Machiko Ono) und der Alte Shigeki (Shigeki Uda) einen Ausflug; der Wagen gerät vom Weg ab, sie gehen zu Fuß weiter, verlaufen sich in dem titelgebenden Wald, heitere Szenen wie das Verspeisen einer Wassermelone und das Versteckspiel zwischen hohen Hecken wechseln mit solchen, die das Labyrinthische des Waldes betonen; in solchen Augenblicken hat dieser grüne, undurchdringliche Raum etwas von einer jenseitigen Welt. Einmal, vor dem Ausflug, wirft Machokis Ehemann seiner Frau vor: „Warum hast du losgelassen, warum hast du losgelassen?“

Man versteht das an dieser Stelle nicht ganz, auch wenn die Kamera zuvor an einem kleinen Altar mit dem Foto eines offenbar verstorbenen Kindes verweilte. Viel später, im Wald, will Shigeki einen Bach überqueren, Machoki fleht ihn an, er möge umkehren. In die Szene hineingeschnitten ist das Bild einer mächtigen Springflut. Man sorgt sich um Shigeki, der im Wasser steht, zumal Machoki immer lauter schreit. Schafft Shigeki es rechtzeitig aus dem Bach heraus? Doch führt der Suspense in die Irre; die Springflut kommt nie an der Stelle an, an der Machoki und Shigeki stehen; sie findet in Machokis Kopf statt, als Erinnerungsbild an den Tod ihres Kindes. So verknappt und präzise mit Bildern zu erzählen, ist eine große Kunst – oft wünscht man geschwätzigen Filmen, sie hätten genau diese Gabe, in drei zeitversetzten Einstellungen einen ganzen Kosmos zu eröffnen.

In dem koreanischen Film „Secret Sunshine“ (Regie: Lee Chang-Dong) kehrt die junge Witwe Sin-ae (De-Yeon Jeon) Seoul den Rücken, um sich in der Heimatstadt ihres Mannes zu etablieren; mit der Trauer über den Verlust scheint sie umso besser auszukommen, je mehr sie sie in Tatkraft umsetzt. Sie richtet eine Klavierschule für Kinder ein, sie plant ein Grundstück zu erwerben, doch eines Tages verschwindet ihr vielleicht sechs Jahre alter Sohn. Wenig später wird seine Leiche aus einem Stausee geborgen. Den zweiten Verlust bewältigt Sin-ae nicht, und damit wiederum können die Menschen in ihrem Umfeld nicht umgehen. Für eine Weile schließt sie sich einer christlichen Gemeinde an, in der sie scheinbar Trost findet. In Wirklichkeit aber haben die Gläubigen nur Floskeln zur Hand.

Lee Chang-Dong arbeitet den Kontrast zwischen dem Trostversprechen der Religion und dem Verwehren dieses Trostes durch die Gläubigen scharf heraus. Sobald Sin-ae zusammenbricht, ziehen sich die braven Christenmenschen zurück. Dann beten sie im Wohnzimmer für Sin-ae, während sie draußen vor dem Fenster steht und zur Verzweiflungstat schreitet. Das Herausragende an „Secret Sunshine“ ist, wie der Film Trauer nicht nur andeutet, sondern durchinszeniert, sie in ihrer Dauer und ihren Nuancen ausspielt, in ihrer ganzen, jeden Tag sich aufs Neue manifestierenden Unerträglichkeit. Do-Yeon Jeons Darbietung ist so überzeugend, dass es eine rundum glückliche Entscheidung der Jury ist, ihr den Preis für die beste Darstellerin zu verleihen.

Auch der mit dem eigens ausgelobten Jubiläumspreis bedachte Film „Paranoid Park“ von Gus Van Sant kreist um einen Todesfall – ein Wachschutzmann wird von dem Skater Alex (Gabe Nevins) bei einer nächtlichen Auseinandersetzung so geschlagen, dass er auf ein Zuggleis fällt und von einem herannahenden Zug erfasst wird; der Film fasst Alex’ Gewissensnot und seine teenage angst in flirrende, schwebende Bilder, wie in einem Albtraum schaut er einmal auf den zerteilten Leib des Wachschutzmannes.

Eigentümliche Kontraste: Draußen, vor den Toren des Festivalpalais, strahlt die Sonne, die Partys in den Villen im Umland von Cannes sind glamourös, die eigene Laune bleibt angesichts der ästhetischen Herausforderung dieses Wettbewerbsprogramms beständig gut, aber was geschieht auf der Leinwand? Nichts als Tod, Verlust, Trauer. Wollte man dem diesjährigen Filmfestival einen zeitdiagnostischen Mehrwert abgewinnen, man könnte fragen: Macht die globalisierte Gegenwart den Regisseuren zu viel Angst, als dass sie sich hoffnungsfroheren Stoffen zuwenden wollten? Hat sich so viel unbewältigte, grausame Vergangenheit akkumuliert, dass man nicht anders kann, als sich von ihr heimsuchen zu lassen? Ist es ein Anzeichen für einen Rückzug ins Private, Allgemeinmenschliche? Oder sind der Tod und das unbarmherzige Verstreichen der Zeit so klassische Kinosujets – schließlich ist der Film eine Kunst, die sich in der Zeit entfaltet und die Zeit vertilgt –, dass sie im Jubiläumsjahrgang eine besonders prominente Rolle spielen mussten? Bei den Coen-Brüdern jedenfalls war programmatisch im Filmtitel angelegt, was das Festival beherrschte – „No Country for Old Men“, und schon in den ersten Szenen waren so viele Leichen zu sehen, dass der schwarze Humor der beiden Regisseure bisweilen etwas deplatziert anmutete.

„La Question humaine“, Nicolas Klotz’ Beitrag zur Reihe „Quinzaine des Réalisateurs“, schloss mit einem Voice-over, das noch jetzt in meinen Ohren nachhallt: Der Protagonist verliest eine lange Liste mit den Namen all seiner Angehörigen, die in einem Konzentrationslager ermordet wurden, dazwischen, auf Deutsch, das Wort „Stücke“ als grausamer, den Rhythmus vorgebender Einschnitt. Auch hier bleibt, wie bei Seidl, am Ende die Schwarzblende.