jazzkolumne: Gerade die komplizierten Dinge sind sehr verwundbar
Avantgarde ist eine Haltung: Um den Komponisten Louis Andriessen hat sich in Holland eine eigene Szene gebildet
Louis Andriessen hat mit seiner Komposition „De Staat“ (1976) die holländische Musik revolutioniert. Als typisch gilt mittlerweile seine Instrumentierung mit Klavieren, Harfen, Blasinstrumenten, Bassgitarren und Vokalgruppen, er plädiert für die improvisierenden Musiker und ein Orchester, das in der Lage ist, Jazz, Zappa, Captain Beefheart, Strawinsky und Varèse aufzuführen. Für Andriessen ist die Nähe zu anderen musikalischen Genres essentiell. Er glaubt, dass die Klaviermusik von Cecil Taylor komplexer ist als die von Xenakis und dass sich das Denken verändert, wenn man Eric Dolphy hört. Andriessen interessieren „vulgäre Materialien“, er will alte Musik schmutzig klingen lassen. Er komponiert für ein imaginäres Orchester, das er „The Terrifying Orchestra of the Twenty-first Century“ nennt – doch mit dem Asko & Schönberg Ensemble aus Amsterdam fühlt er sich seinem Ideal einer demokratisierten Musikpraxis sehr nah.
1969 hat er zusammen mit Misha Mengelberg und anderen die antiimperialistische Oper „Rekonstruktion“ geschrieben. Mengelberg und Andriessen kannten sich schon als Studenten bei Kees van Baaren und bei Mengelbergs Vater am Königlichen Konservatorium in Den Haag. Van Baaren war ein holländischer Krenek aus der Generation der Zwölfton-Komponisten in den Dreißigern und Vierzigern. In den Fünfzigern war van Baaren für Andriessens Generation sehr wichtig, Mengelberg hat eine John-Cage- und Jazz-Seite, Andriessen studierte bei Luciano Berio – sie fühlten sich sehr verschieden von den anderen Studenten, die nur Webern und Schönberg hörten. In den Siebzigern wurde es für Andriessen ganz klar, dass Musikproduktion und -konsumption eng miteinander verknüpft sind. Er wollte ein eigenes Orchester gründen, sich ein entsprechendes Publikum suchen und mit den Musikern eine Arbeitssituation herbeiführen, die einer idealistischen Auffassung von Demokratie ähnelt.
Heute sagt er, dass alles wohl etwas komplizierter sei, aber auch, dass die Ideen zu einer freieren Art des Musikmachens heute leichter umzusetzen sind als 1970. Es sei typisch für die holländische Musikkultur geworden, dass es zahlreiche zeitgenössische Ensembles gibt, die mit komplexen Strukturen, Jazz und Improvisation vertraut sind. Das sei durch ihre Aktionen möglich geworden – ein Sieg, den man erreicht habe. Damals wurde natürlich die marxistische Literatur diskutiert, und Andriessen kam zu dem Entschluss, auf seinem Feld Veränderungen zu wollen. Als Komponist mit einem eigenen Orchester. Heute sei er sehr für die zentrale Kontrolle in einem demokratischen Staat, er habe keine Sympathie für die neokonservative Politik – der Liberalismus sei ein Feind der Kunst und besonders von schwierigen Dingen. Gerade die komplizierten Dinge sind sehr verwundbar, sagt Andriessen.
Im Jazz und Pop gilt es als normal, dass Musiker eigene Entscheidungen treffen, dass man eigene Interpretationen von Gefühlen leiten lässt und dass man mit Freude und Freunden zusammenarbeitet – für klassische Musiker ist das ganz anders. Die Gesangs- und Streicherkultur sei noch zu sehr 19. Jahrhundert, sagt Andriessen – das sei weiterhin ein Problem für seine Musik. Nach über 40 Jahren der Suche habe er die italienische Sängerin Cristiana Zavalloni gefunden, und sie hat die besondere Qualität. Sie kommt von Pop und Jazz und hat eine klassische Ausbildung, sie kann all die Klänge machen, die ihn interessieren. Er spricht von einem bestimmten vokalen Ausdruck, den man vom Jazz her kennt.
Für seine Komposition „Letter from Cathy“ (2003), die morgen in Amsterdam holländische Premiere hat, sichtete Andriessen die 30 Postkarten und Briefe, die er einst von der 1983 verstorbenen Sängerin Cathy Berberian erhielt. Berberian lernte er durch seine Arbeit mit Berio kennen, mit dem sie verheiratet war. Als Zavalloni Andriessen um eine Komposition für eine Berberian-Hommage bat, wählte er dafür aus den Briefen den aus, in dem sie über ein Treffen mit Igor Strawinsky berichtet, währenddessen er beschloss, ihr seine Komposition „Elegy for John F. Kennedy“ (1963) zu widmen. Sein Publikum sei sehr überschaubar, und seine Fähigkeit als Komponist bezeichnet Andriessen selbst als begrenzt. Er habe wirklich sehr oft versucht, etwas ganz Neues zu tun, doch seine Freunde haben dann immer gesagt, das sei doch typisch Andriessen.
Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen gehören einer Generation an, die seine musikalische Sprache nicht mehr versteht, sagt Andriessen. Sie seien limitiert, weil es im Modernismus ein Tabuisieren aller anderen Musik gibt. Ob Unterhaltungsindustriemusik oder afrikanische Sounds – es ist der modernistischen Generation egal, was es sonst noch gibt, für sie sei das alles Volksmusik. Und der Unterschied zwischen Wynton Marsalis und ihm sei: Marsalis macht alles schön und er mache alles kaputt, und das Kaputtmachen könne sehr charmant sein.
Die Avantgarde hat mit einer widerständigen Haltung zu tun – gegen den Terrorismus der Unterhaltungsindustrie. Im Widerspruch zu Boulez ist Andriessen der Meinung, dass die meisten der so genannten erweiterten Techniken in der modernen Instrumentalmusik vom Free Jazz und von der improvisierten Musik kommen. Er höre sehr genau, wenn Musiker komplexe neue Musik interpretieren und es dabei nicht schaffen, sich mit ihr zu identifizieren – dann spielen sie nur die Noten. Und das habe eben keinen Soul. CHRISTIAN BROECKING
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