Honky-Tonk für die Zukunft

Es geschah an einer Kunsthochschule: Drei Studenten entdeckten ihre Liebe zu Punk und Folk und wurden die Marseille Figs. Morgen spielen sie im White Trash

Da stehen drei Männer in schwarzen Anzügen aus den Dreißigern auf der Bühne und hantieren mit einer beeindruckenden Zahl von Instrumenten, darunter Gitarre, Mundharmonika, Akkordeon, Flügelhorn, Posaune und Kinderkeyboard. Das Klischee will es zwar, dass Männer in schwarzen Anzügen plus Akkordeon entweder eine Klezmercombo sein müssen oder Balkan-Pop spielen. Die Marseille Figs sind aber weder das eine noch das andere, wie man am Samstag im White Trash wieder erleben kann. Der Haltung nach sind sie die Punks des Neo-Folk, und ihre musikalischen Einflüsse reichen bis in die Urzeiten technisch reproduzierter Popmusik, nämlich in die Ära von Ragtime, Blues und Honky-Tonk zurück.

J. Maizlish, der Songwriter der Figs, wohnt seit geraumer Zeit über einer Baptistenkirche in Mitte. Er, Tom Chant und Dorian McFarland haben sich Ende der Neunziger, wie viele Pop-Bands der letzten vierzig Jahre, an einer Kunsthochschule, nämlich der Slade in London, getroffen. Zunächst spielten sie nur mit ihren Plattensammlungen. Denn abgesehen von Tom Chant, der mit seinem Saxofon noch in diversen anderen Bands tätig ist, haben die beiden anderen ihre Instrumente überhaupt erst gelernt, um die Songs, die sie sich ausgedacht hatten, realisieren zu können. Maizlish hatte seit dem Cellounterricht als Fünfjähriger kein Instrument mehr in der Hand, McFarland wollte der Legende nach endlich das Akkordeon benutzen, das er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. So entstanden die Marseille Figs.

In den iTunes-Verzeichnissen der Figs finden sich heute Gesänge aus den Steinbrüchen und Plantagen wie der 1941er „Alamo Rag“ von Adolph Hofner, der „Honky Tonk Blues“ von Al Dexter und der „Buzzard Song“ des schwarzen Texaners Arthur Amstrong. Zum Figs-Kanon gehören aber auch Stücke von den Beach Boys, den Beatles, Elvis, Nina Simone, Coltrane und Mingus. Sie verstehen sich nicht als Vereinigung zur Pflege ur-amerikanischen Kulturguts, sondern sind strenge Eklektizisten. So gehört ins Programm des Trios eine Version des großen amerikanischen Traditionals „Staggerlee“, das in den letzten 80 Jahren von einer unüberschaubar großen Zahl von Künstlern gecovert wurde. Es erzählt von einem bösen Mann, der Billy wegen eines Stetson tötet, der fünf Dollar gekostet hat. Live spielen die Figs auch eine einigermaßen krasse, weit vom Original wegdriftende Blues-Fassung von Rod Stewarts „Do ya think I’m sexy?“, die aus einem Inferno heulender Mundharmonikasounds heraus erst langsam Gestalt annimmt.

Angenehm unironisch erzählen die Marseille Figs aber auch ihre eigenen traurigen, witzigen und absurden Geschichten von einsamen Cowboys und müden Arbeitern, von Sehnsucht und Liebe: J. Maizlish schreibt wunderbare, sofort mitsingbare Melodien, die das Potenzial großer Popsongs haben, dabei aber noch Platz lassen für psychedelische Momente und einen ganz spezifischen Noise, den man vielleicht nur mit akustischen Instrumenten herstellen kann.

Das Konzept der Marseille Figs, sagt der Kalifornier, sei es, die verschiedenen Zustände des Amateurhaften kurzzuschließen, die sowohl im Punk, im Folk als auch in bestimmten Avantgardemusiken eine wesentliche Rolle spielen. Genau das ist die Größe, aber gewissermaßen auch das Problem dieser charmanten Musik: Sie lässt sich nicht auf einen marktgängigen Begriff bringen. Dankenswerterweise lassen sich die Menschen vom White Trash dadurch nicht davon abhalten, die Marseille Figs einzuladen. ULRICH GUTMAIR

Am Samstag ab 21 Uhr im White Trash