Russisch singen in China

Denken in Beziehungen: Das ist nicht das Einzige, was man von China lernen kann, wie das Festival „Der Umweg über China“ im HAU ab heute zeigen wird. Mit einem Symposium, Ausstellungen, Theater und einer Filmretrospektive von Jia Zhangke

VON EKKEHARD KNÖRER

Wie nah rückt uns das sich rapide modernisierende China? Und wie nähern wir uns diesem China, das seine Märkte liberalisiert, ohne damit eine Demokratisierung oder die Achtung der Menschenrechte zu verbinden? Das sind die Fragen, die sich das Festival „Umweg über China“, zu dem das HAU vom 1. bis zum 10. Juni einlädt, stellt. Es verbindet Diskurs und Kunst, stellt Theater, Musik und Film aus dem China von heute vor. Seinen Titel verdankt es einem Buch des französischen Philosophen und Sinologen François Jullien, der mit einem Vortrag heute Abend auch gleich ein zweitägiges Symposium eröffnet.

Für den Philosophen Jullien ist der „Umweg über China“ freilich in erster Linie eine Denkbewegung. Wer den Westen verstehen will, so seine Ausgangsthese, muss die Grenzen des westlichen Denkens verlassen. Der 1951 geborene Jullien nahm die These so wörtlich wie möglich, studierte Sinologie, ging ins China der Kulturrevolution und begann, die Klassiker des chinesischen Denkens zu lesen. Und zwar stets mit dem Blick zurück aufs Abendland, dessen philosophische Dispositive sich beim Blick von draußen plötzlich als einheitliche Formation auszunehmen begannen.

Jullien versteht seinen „Umweg“ durchaus als Parallelaktion zu Diskursanalyse und Dekonstruktion. Derrida oder Foucault aber konnten, findet Jullien, nicht weit genug gehen. Das westliche Denken kann das Prekäre der Fundamente, auf denen es steht, beschreiben, es kann, mit Derrida, seine Begriffe dekonstruieren, es kann, mit Foucault, die Radikalität diskursiver Umbrüche betonen – es wird sich zuletzt doch immer in den Trümmern ebendieser Fundamente wiederfinden.

Das chinesische Denken dagegen, so Julliens Behauptung, kommt ohne zwei zentrale westliche Denkgewohnheiten aus: ohne die ontologische Frage danach, was etwas „ist“, und ohne das Epos mit seinem Helden. Schon in der ersten Chinesischlektion lernt man: Das Wort für „Ding“ heißt übertragen „Ost-West“. Liegt darin, fragt Jullien, „nicht allein schon eine ungeheure Möglichkeit für das Denken?“ Die Welt wird so als Serie von Beziehungen gesehen, nicht als Menge von Dingen. Es geht nicht um Ereignisse und ihre Ursachen, sondern um Prozesse ohne Subjekt oder lokalisierbaren Ort; nicht um den Eingriff von Individuen, sondern um die Anpassung an eine Situation, das Ausnutzen des Moments.

In genauen Lektüren hat Jullien den Kontrast zwischen westlichem und östlichem Denken herausgearbeitet. Er erläutert, warum in China ausgerechnet das „Fade“ einer der höchsten kulturellen Werte ist: Die Leere und Ruhe des Faden lenkt die Aufmerksamkeit nicht auf sich und eröffnet gerade so dem Denken, den Bildern, den Tönen eine spezifische Unerschöpflichkeit.

Kamel vor Pyramide

Julliens „Umweg über China“ ist unter Sinologen seiner Generalisierungen wegen nicht unumstritten – und hat mit den aktuellen Entwicklungen des Landes nur sehr vermittelt zu tun. Natürlich bietet das an Zugängen reiche Festival auch viele andere Perspektiven. So zeigt es eine Retrospektive der Spielfilme Jia Zhangkes, des wichtigsten Filmemachers der jüngeren Regie-Generation, der im letzten Jahr mit „Still Life“ den Goldenen Löwen gewann. Was seine Filme ausnahmslos auszeichnet, ist der geduldige Blick auf Menschen in ihrem Alltag. Sein Meisterwerk „Platform“ (2000) zeichnet, mit dem Jahr 1979 beginnend, am Beispiel einer Theatertruppe das Jahrzehnt des Umbruchs nach, in dem die westliche Kultur zunehmend Einfluss gewann. Während die Gruppe zunächst noch revolutionsfromme Stücke spielt, werden ihre jugendlichen Mitglieder am Ende als „All-Star Rock ’n’ Breakdance Electronic Band“ den Anschluss an den globalen Popdiskurs gefunden haben.

In „The World“ (2004) entwirft Jia Zhangke dann eine ironische Allegorie chinesischer Globalisierungsbemühungen. Der Film spielt in einem real existierenden Vergnügungspark nahe Peking, in dem sich auf Drittelgröße verkleinerte Wahrzeichen der westlichen Welt finden, vom Eiffelturm bis zu den Türmen des World Trade Center („Bei uns stehen sie noch“, sagt ein Führer). Eine Gruppe russischer Frauen kommt an, sie werden als Tänzerinnen arbeiten, sie sprechen natürlich kein Wort chinesisch, ihre Reisepässe müssen sie sofort abgeben. Zwischen einer von ihnen und der Chinesin Tao, die schon im Park arbeitet, kommt es zu einer Art Freundschaft, sie sprechen miteinander, zueinander in fremden Sprachen, die Russin singt ein Lied, Tao singt es ihr nach. Später sieht man ein einsames Kamel, ein echtes, vor einer Pyramide, die groß ist, aber nicht sehr groß. Hier, scheint Zhangke zu sagen, wächst nichts in den Himmel.

Durch gezielte Kontrastierung von Globalem und Lokalem wird China kenntlich als Land der Ungleichzeitigkeiten zwischen gestern und morgen, gefangen im rasenden Stillstand eines Aufbruchs, der viele einfach überrollt. Von der offiziellen Selbstbeschreibung des Landes sind diese Porträts weit entfernt – umso vertrauter erscheint uns, was wir da sehen. Auf diesem Umweg rücken uns Chinas Probleme erstaunlich nahe.

„Umweg über China“ in allen drei Theatern des HAU, bis 10. Juni. Heute um 19.30 Eröffnungsvortrag von François Jullien im HAU 1. Filmretrospektive Jia Zhangke ab 3. Juni