Bis ins Heute

Uwe Soukop rekonstruiert, wie am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg starb

VON VEIT MEDICK

Nichts erinnert am Tatort Krumme Straße 66/67 an die dramatischen Geschehnisse des 2. Juni 1967. Vergeblich sucht man nach Gedenktafeln oder Inschriften. Und nur ein Teil der jetzigen Bewohner weiß mit dem Namen Benno Ohnesorg noch etwas anzufangen.

Merkwürdig, war doch der Tod des jungen Studenten am Abend des Schah-Besuchs der Beginn einer Epoche, deren Ende der mörderische Deutsche Herbst markieren sollte. Das zumindest ist eine der Thesen in Uwe Soukups Buch „Wie starb Benno Ohnesorg?“. Eine zweite lautet: Ohnesorg wurde das unschuldige Opfer einer gezielten Eskalationsstrategie der Berliner Polizeibehörden. Er war letztlich Opfer eines staatlich sanktionierten Mordes. Und nach der Lektüre folgt man dem Autor, sprachlos ob der unerklärlich brutalen Vorgehensweise der Staatsvertreter. Denn Soukup begründet diese Sichtweise glaubwürdig, akribisch, geradezu kriminalistisch.

Soukup hat jahrelange rechercheriert, mit ehemals Beteiligten gesprochen, verstaubte Aktenberge der damaligen parlamentarischen und studentischen Untersuchungsausschüsse durchgearbeitet, darin enthaltene Zeugenaussagen, Tonbandaufnahmen und nicht zuletzt unzählige Presseberichte verarbeitet. Ergänzend ist das Buch mit faszinierendem Bildmaterial illustriert, das – einzeln ausgeschnitten – aus den Geschehnisse des Tages wohl ein lückenloses Daumenkino ergeben würde.

Doch auch mit diesem Konglomerat an Perspektiven ergibt sich ein Drehbuch einer gewollten Eskalation, das seinen Anfang am Vormittag des 2. Juni vor dem Schöneberger Rathaus nahm. Sogenannte Jubelperser, mehrheitlich Angehörige des iranischen Geheimdienstes Savak, hatten vor dem Rathaus Aufstellung genommen. Nachdem sie den dikatorisch regierenden und von der Bundesrepublik und den USA unterstützten Schah Reza Pahlevi frenetisch begrüßt hatten, tauschten sie ihre Transparente gegen Holzknüppel und wandten sich den hinter ihnen stehenden Schah-Kritikern zu. Ungehindert konnten sie auf die friedlichen Demonstranten einschlagen.

Die polizeiliche Untätigkeit geißelte der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz kurze Zeit später als „unmöglichen“ und „sagenhaften Vorgang“. Uwe Soukup meint: „Wer vielleicht noch gezögert hatte, war spätestens jetzt davon überzeugt, abends zur Deutschen Oper zu fahren.“

Dort, so schildert Soukup überzeugend, vermochte die Polizei schließlich einen friedlichen Protest in eine Straßenschlacht mit Todesfolge zu verwandeln. Vieles spricht jedenfalls dafür, dass die Behörden erst künstlich eine Konfliktsituation schaffen mussten, um Tränengas und Gummiknüppel einzusetzen, einzelne „Rädelsführer“ aus der Masse herauszugreifen und vor den Augen aller zusammenzuschlagen. So zeichnet Soukup nach, dass die Demonstranten, eingepfercht zwischen Bauzaun und Absperrgittern, bewusst mit Steinen und Gummiringen munitioniert worden sein müssen. Überzeugend belegt er auch, dass die Sicherheitsbehörden per Lautsprecher gezielt die berühmte Falschmeldung streuten, einer ihrer Beamten sei getötet worden, um die Kollegen anzustacheln und das brutale Einschreiten zu legitimieren.

Diese zwei taktischen Maßnahmen, schreibt der Autor, seien der „eigentliche Schlüssel“ zum Verständnis des polizeilichen Vorgehens. Ein Vorgehen, das sogar die rebellionsunverdächtige Frankfurter Allgemeine mit Zuständen verglich, die „bisher nur aus Zeitungsberichten über faschistische oder halbfaschistische Länder bekannt“ wurden.

Nur Minuten später, nach wilden Jagdszenen, fiel der tödliche Schuss des später freigesprochenen Polizeibeamten Karl-Heinz Kurras auf Benno Ohnesorg. Aus Notwehr, wie der parlamentarische Untersuchungsausschuss später feststellte, und damit wohl die Basis legte für Kurras’ richterlichen Freispruch.

Auch hier ist Soukup wieder rigoroser Aufklärer. Mit Zeugenaussagen von Schah-Gegnern, unbeteiligten Schaulustigen, Polizeibeamten und anwesenden Journalisten sowie einer detaillierten Fotoanalyse rekonsturiert er den genauen Tathergang. Er trägt nochmals alle Widersprüche zusammen, dekonstruiert die polizeiliche Verteidigungstaktik, entlarvt Kurras als rational handelnden Täter und schildert schließlich die Scheinheiligkeit der parlamentarischen Aufarbeitung.

Interessant sind die Analysen der intrigenverfangenen Berliner SPD, ihrer selbstzerstörerischen Flügelkämpfe und ihrer repressiven Politik, die, so stellt Soukup fest, letztlich auch als Geburtshelfer der destruktiven Energie fungierte, „die niemand mehr unter Kontrolle bekam“.

Das geradezu sadistische Verhalten etlicher Polizeibeamter“, so Soukup, ließe sich durchaus mit der „politisch-psychologischen Situation der Stadt“ erklären. Über den fragilen Zustand Westberlins in den 60er-Jahren hätte man gern mehr gelesen. Es dürften vor allem die traumatischen Erfahrungen des Krieges und der Teilung gewesen sein, die weite Teile der Berliner Bevölkerung den Zustand ständiger Konfrontation mit Normalität verwechseln ließen. Auch unverarbeitete autoritäre Reste des NS-Regimes spielten eine Rolle. Dieses Latente kam zum Vorschein, als Berlin in den 60ern zum zentralen Schauplatz des Kampfes zwischen staatlicher Autorität und studentischer Autonomie wurde. Eine mentalitätsgeschichtliche Einordnung des 2. Juni 1967 wäre insbesondere für jüngere LeserInnen hilfreich gewesen.

Doch auch so ist ein faszinierendes Buch entstanden, das in seinem Unterhaltungswert einem guten Kriminalroman die Stirn bieten kann. Gleichzeitig ist es von bis ins Heute ragender politischer Bedeutung. Es lässt sich, etwa mit Blick auf den G-8-Gipfel, als Mahnung an Staat und Protestbewegung lesen: an den Staat, dafür zu sorgen, dass seine Repressionsorgane keine unkontrollierbare Eigendynamik gewinnen. Und an die Bewegung, sich nicht vom gewaltlosen Protest zu entfernen und nicht alle staatlichen Deutungmuster für bare Münze zu nehmen.

Uwe Soukop: „Wie starb Benno Ohnesorg – Der 2. Juni 1967“. Verlag 1900 Berlin, Berlin 2007, 272 Seiten, 19,90 Euro