: Ein Blogger im 17. Jahrhundert
Wieder aufgelegt: „Die Charaktere“, das Hauptwerk von Jean de La Bruyère
Eine mediale Öffentlichkeit, wie wir sie kennen und wie sie uns heute normal erscheint, gab es im ausklingenden 17. Jahrhundert nicht. Der Buchdruck war zwar etabliert, die Tageszeitung aber new media, die Salonkultur des 18. und 19. Jahrhunderts im Entstehen begriffen. Die Öffentlichkeit befand sich im Wandel. Wegweisende Werke wie das kritisch-historische Wörterbuch des Philosophen Pierre Bayle, Vorläufer der späteren „Encyclopédie“, deren heutiges Pendant Wikipedia heißt, erschienen erst. Jean de La Bruyère, Jurist und Prinzenerzieher am Hof Ludwigs XIV., veröffentlichte inmitten dieser turbulenten Umbruchzeit sein Opus Magnum „Die Charaktere oder die Sitten des Jahrhunderts“; der Insel Verlag hat das lange nicht greifbare Werk nun in einer bunt illustrierten Schmuckkassette und in der bewährten Übersetzung von Otto Flake, die leichte Korrekturen erfahren hat, als edle Leinenausgabe neu herausgegeben. Bleibt die Frage, wie der französische Klassiker heute zu lesen ist und was er uns noch zu sagen hat.
Rein technisch kann man dieses heterogene Textkonvolut aus Mini-Essays, Beobachtungen und Aphorismen wie ein Weblog lesen. Kern des Werkes ist die Übersetzung der antiken Charaktere des humorvollen Aristoteles-Freundes Theophrast, den der Moralist in Blogger-Manier ebenso kommentiert wie seine Zeitgenossen La Rochefoucauld, Corneille oder Racine. Dazu kommt, dass er sein Werk immer weitergeschrieben, ergänzt und in thematische Kategorien wie „Vom Menschen“, „Vom Hofe“, „Von der Gesellschaft“ und der „Unterhaltung“ geordnet hat. Neben formalen Parallelen gibt es historische: Auch die gegenwärtige Öffentlichkeit befindet sich im Wandel, erfährt durch das Internet eine globale Öffnung und eine extreme Dimension von Unmittelbarkeit.
La Bruyère, ein Blogger vor der Zeit? Natürlich lässt sich der Vergleich demontieren. Aber Literatur der Art, wie La Bruyère sie schrieb, findet sich heute vor allem im Netz. Rainald Goetz’ Internettagebuch „Abfall für alle“ etwa, mit dem er allerdings als Blogger vor der Zeit Pionierarbeit leistete, ließ sich ohne weiteres als gegenwartsfokussierende Sittenbeschreibung lesen. Sein aktuelles Blog auf www.vanityfair.de funktioniert ähnlich. Auch La Bruyère zielt auf die Gegenwart. Er beschreibt die allgemeine Physiognomie der Gesellschaft seiner Zeit, indem er den Menschen in seinen Charaktereigenschaften reflektiert und vom Individuellen aufs Allgemeine verweist, vor allem im Hinblick auf soziale Verhältnisse. Streckenweise bleibt der „Soziologe unter den Moralisten“, wie er genannt wurde, seiner Epoche verhaftet; Schilderungen der Sitten am Hofe sind heute eher von historischem Interesse. Dann wieder ist er zeitloser Anthropologe: „Es ist ein großer Jammer, wenn man weder genug Geist hat, um eine Unterhaltung führen zu können, noch genug Urteil, um zu schweigen. Da hat man den ganzen Ursprung des impertinenten Menschen.“
La Bruyère, der den Skeptiker Montaigne variiert, etwa wenn er von der Wankelmütigkeit menschlichen Urteilens spricht, ist bei allem Kritikpotenzial kein Frühaufklärer oder Toleranzprediger. Sein Blick ist distanziert, dabei scharf und an Fakten orientiert, seine Haltung konservativ. In der berühmten „Querelle“ – der Frage, ob die Antike noch Vorbild zeitgenössischer Kunst sein soll – positionierte er sich gegen „die Modernen“. Seine Selbstsicht bleibt ironisch: „Wenn man an diesen Charakteren keinen Gefallen findet, werde ich mich wundern, und wenn man Gefallen an ihnen findet, wundert es mich ebenso.“ TOBIAS SCHWARTZ
Jean de La Bruyère: „Die Charaktere“. Aus dem Französischen von Otto Flake. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2007, 543 Seiten, 48 Euro
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