Gespannte Ségosphäre

Sie kennt die politische Elite, zu der sie gehört. Sie weiß, was sie tun muss, um anders zu wirkenSelbst in der PS wächstdie Ungeduld. „Nichtlinks genug“, lautet die Kritik von Genossen

AUS Grenoble Dorothea Hahn

Die Kandidatin sitzt mit eng aneinandergelegten Beinen auf einem Klappstuhl in der vordersten Reihe. Auf dem Schoß einen DIN-A5-Block. Einen Meter vor ihr, wo mit weißer Farbe ein Kreuz auf den grünen Teppichboden markiert ist, wechseln sich im Dreiminutentakt Jugendliche am Mikrofon ab. Schüler, Lehrlinge, Studenten und Arbeitslose. „Ségolène“ und „du“ sagen die meisten. „Madame Royal“, einzelne. Alle klagen über die Härten des Alltags: Diplome und trotzdem keine Arbeit. Unbezahlte Praktika, die sich perspektivlos aneinanderreihen. Wohnungen, die „nur an Leute gehen, die feste Arbeitsverträge haben“. Und Polizisten, die ihre Personenkontrollen nach der Hautfarbe richten. Es ist eine Bestandsaufnahme der Befindlichkeit von Jugendlichen in Frankreich. Oft stockend vorgetragen.

Die Anwärterin auf das höchste Amt der Republik trägt an diesem Abend eine schwarze Lederjacke. Darunter ihre übliche Pariser Garderobe: Rüschenbluse, knielanger Rock und Pumps mit Pfennigabsätzen. Sie lächelt jeden Redner aufmunternd an. Falls sie im Mai die Mehrheit der Stimmen der Franzosen bekommt, wird sie die Frau mit den größten Machtbefugnissen in Europa. An diesem Abend beugt sie sich immer wieder vor, um Notizen zu machen. Manchmal reißt sie eine Seite aus ihrem Block. Damit steht sie auf, geht zu dem weißen Kreuz und spricht. Wie eine besonders eifrige Schülerin.

„Partizipative Demokratie“ heißt die Übung. Es ist das Markenzeichen der Kampagne von Ségolène Royal. Sie hat das Rezept im westfranzösischen Poitou-Charentes erprobt, wo sie vor drei Jahren triumphal zur Regionalpräsidentin gewählt wurde. Jetzt überträgt sie es auf das ganze Land. „Die Citoyens sind die besten Experten für ihren Alltag. Sie müssen gehört werden, um die Politik zu bestimmen“, lautet ihre Begründung. „Demagogie“, schimpfen Royals Gegner rechts und links. „Sie heuchelt den Franzosen etwas vor“, sagt der rechte Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres. „Wahlen gewinnt man mit Politik, nicht mit Methoden“, nörgelt der Sozialist Jean Glavany, der dem 2002 gescheiterten linken Präsidentschaftskandidaten Lionel Jospin als Kampagnenchef gedient hat.

In der alten Eislaufbahn von Grenoble ist das Logo der Sozialisten – die rote Rose in der Faust – verschwindend klein. Die „Ségosphère“, das Netzwerk der Kandidatin, hat eigene Symbole und Farben: Vor allem den Spruch „Ségolène Présidente“. An diesem Abend auch die Aufforderung: „Misch dich ein!“ Das Ganze auf leuchtend lilafarbenem Untergrund. Dreitausend Personen sitzen in der Eislaufbahn und hören konzentriert zu. Applaus brandet nur selten auf. Unter ihnen überzeugte Anhänger, aber auch linke und rechte Kritiker der Kandidatin. Buhrufe gibt es nicht. Politische Parolen auch nicht. Die Kandidatin kommt beinahe allein in den Saal. Sie nimmt kein Bad in der Menge. Sie schüttelt nicht hunderte Hände. Und sie setzt keinen Lebenspartner ins Publikum. Als einzige prominente Begleitung aus Paris bringt Royal die schwarze Parlamentsabgeordnete Christiane Taubira mit. Deren Lob für das Engagement von Royal gegen Diskriminierungen ist einer der seltenen Momente an diesem Abend, in dem der Saal tosend applaudiert.

Royal kommt aus derselben Verwaltungsschule (ENA) wie der gegenwärtige Regierungschef und die meisten Staatspräsidenten der V. Republik. Sie war Beraterin von François Mitterrand im Elysée-Palast. Sie war dreimal Ministerin. Sie ist Parlamentsabgeordnete seit 18 Jahren. Und sie hat fast zwei Jahrzehnte Erfahrungen in der Provinz. Sie kennt die politische Elite, zu der sie gehört. Sie weiß, was sie tun muss, um anders zu wirken. Sie weiß, welche Tabubrüche kleine Skandale in den Partei- und Regierungsapparaten und zugleich große Zustimmung bei der schweigenden Mehrheit der Franzosen hervorrufen können. Die „partizipative Debatte“ und der zurückhaltende Ton ihrer Kampagne, aber auch der Verzicht auf Beteiligung der großen Männer ihrer eigenen Partei gehören dazu.

Am Jahresanfang war Royal die bestplatzierte Präsidentschaftskandidatin. Seit die rechte UMP bei einem großen Spektakel ihren Kandidaten bestimmt und der mit viel Vorschusslorbeeren seine Kampagne begonnen hat, sinkt ihre Popularität. Bei Umfragen liegt sie jetzt mehrere Prozentpunkte hinter Nicolas Sarkozy. Pariser Hochglanzmedien, die sie bei den PS-internen Wahlen im letzten Herbst gegen andere sozialistische Kandidaten unterstützt und von ihrer Politik, ihrem Charisma und ihrer Schönheit geschwärmt haben, setzen jetzt auf den rechten Spitzenmann. Bei Royal konzentrieren sie sich auf die Beschreibung von „Fauxpas“ und „Erfahrungsmangel“.

„So viele Pannen“, schreibt der Express in dieser Woche: „Kann sie das schaffen?“ Linksliberale Tageszeitungen wie Le Monde und Libération nennen Royal gelegentlich spöttisch „Bécassine“ – nach einer naiven Provinzlerin in einem Kinderbuch aus der Nachkriegszeit. Minister aus Sarkozys Umfeld bescheinigen ihr „gefährliche Inkompetenz“ in sämtlichen Politikbereichen: von den Steuern über die Diplomatie bis hin zu Rüstungsfragen. Die Geheimdienste Renseignements Généraux, die dem Innenminister und Kandidaten Sarkozy persönlich unterstellt sind, schnüffeln bereits zum zweiten Mal binnen weniger Monate in ihrem Umfeld herum. Und selbst in der PS wächst die Ungeduld. „Nicht links genug“, lautet die Kritik von Genossen.

Royal lässt sich nicht beirren. Sie hält an ihrem Kurs fest. „Ich werde die Zweifler von meiner Methode überzeugen“, sagt sie. Auch ihren Zeitplan will sie nicht ändern. Der sieht vor, dass sie ihr Präsidentschaftsprogramm, das sie als Synthese der Vorschläge von unten versteht, erst am 11. Februar vorstellt. Der Abend in der alten Eislaufbahn von Grenoble ist die letzte „partizipative Debatte“, an der sie persönlich teilnimmt.

„Ségolène kann wahnsinnig gut zuhören“, schwärmt die 31-jährige Kindergärtnerin Fátima in der alten Eislaufbahn. Die junge Frau ist eine der Gründerinnen der „Ségosphère“ in der Nachbarstadt Lyon. Bevor das Netzwerk im letzten Mai offiziell aus der Taufe gehoben wurde, haben örtliche Ségolène-Fans schon lange daran gewebt. In den letzten Monaten ist Fátima fünfmal nach Paris gefahren, um Royal zu beraten. Mal ging es um Legastheniker, mal um die Instandsetzung verkommener Altbauten. Immer saß die Kandidatin mit einem Notizblock dabei. Fátima schätzt an der „Ségosphère“, „dass die Vorschläge von unten nach oben gehen“. Bei der sozialistischen Partei, so die Kindergärtnerin, sei das umgekehrt: „Da bestimmt die Zentrale, was die Basis zu denken hat.“ Die Kindergärtnerin geht davon aus, dass auch eine Präsidentin Royal die „partizipative Debatte“ pflegen wird.

In Grenoble ist die Kandidatin noch mitten im Zwiegespräch mit ihrer Basis. Eineinhalb Stunden lang dauert das gemeinsame Klagen und Themensammeln. Am Ende tritt die Kandidatin an das durchsichtige Pult. Mit einem Text, den ihre Sprecher schon zu Beginn der „partizipativen Debatte“ an die Journalisten verteilt haben. Während sie fast eine Stunde spricht, wechselt Royal von dem kollektiven „Wir“ in die Einsamkeit des präsidialen „Ich“. Es ist die kämpferischste Rede ihrer bisherigen Kampagne, stellen Parteilinke fest. Royal spricht über ein Frankreich des „neuen politischen und moralischen Vertrags“, der „Zeit nach dem Erdöl“ und der „vielen verschiedenen Herkünfte“, das sie präsidieren will. Erstmals attackiert sie auch Nicolas Sarkozy. Ohne ihn beim Namen zu nennen, lehnt sie sich gegen die „neoliberale Verrücktheit“ auf. Und erklärt den Urnengang zu einer „Wahl zwischen Zivilisationen: zwischen Humanismus und Elitismus, zwischen kreativer Brüderlichkeit und zerstörerischer Konkurrenz, zwischen Respekt für alle und dem Krieg von jedem gegen jeden“.

Die Anhänger von Royal erkennen keine „Fauxpas“ bei ihrer Kandidatin. Im Gegenteil: Sie spricht ihnen aus der Seele, wenn sie Dinge sagt, die politisch nicht korrekt klingen. Viele haben insgeheim jubiliert, als sie im vergangenen Jahr eine „militärische Erziehung“ für straffällige Jugendliche verlangt hat. Viele erleichterte es auch, dass endlich eine Linke mehr „elterliche Autorität“ verlangte. Im Januar hat Royal einen kleinen diplomatischen Zwischenfall mit Kanada ausgelöst, als sie Verständnis für das Unabhängigkeitsstreben von Québec zeigte. „Na und?“, lacht die Lehrerin Natasha (52) in Grenoble: „das denken die meisten Franzosen. Alle kennen den Ausruf von General de Gaulle: Vive le Québec libre.“ Und auch die Empörung darüber, dass Royal im Radio nicht die exakte Zahl der atomar betriebenen französischen U-Boote nennen konnte, teilen ihre Anhänger nicht. „Dafür gibt es Militärexperten“, meint Malika (27).

„Frauen haben es in der Politik immer besonders schwer“, sagt Pierre (68), der sich „vom Fabrikarbeiter zum Lehrer“ hochgearbeitet hat. Wie viele im Saal, haben Pierre und seine Frau Bernadette (70) im vorletzten Jahr gegen die EU-Verfassung gestimmt. „Ich will ein schönes Europa“, sagt Bernadette, „kein kapitalistisches.“ Dass Royal Kampagne für ein „Oui“ gemacht hat, stört die beiden nicht. Im April und im Mai werden sie für die Sozialistin stimmen: „Weil sie frische Luft in unser Land bringt.“

Auch der Euphorie von Amin (19) können sinkende Umfrageergebnisse wenig anhaben. Der Jurastudent aus einer Einwandererfamilie spürt „jede Menge Begeisterung auf der Straße“, sagt Amin, „da können die Medien der Macht schreiben, was sie wollen.“ Seit vier Jahren ist er PS-Mitglied. Bei dieser letzten partizipativen Debatte mit Royal hat er für mehr Respekt für Vorstadtjugendliche plädiert.

Die 23-jährige Karima, ungelernte Angestellte einer Bank in Grenoble, hätte auch gern ein paar Sätze ins Mikrofon gesagt. Doch trotz heftiger Gestikulationen kommt sie nicht an die Reihe. „Ich passe nicht ins Casting der Ségosphère“, sagt sie. Enttäuscht stellt sie fest: „Hier haben Leute geredet, die wir aus dem Fernsehen kennen. Und nicht ich – eine echte Grenoblerin.“ Sie wollte der Kandidatin sagen, dass sie gegen Sarkozy ist, aber immer noch nach Argumenten für Royal sucht. „Ich will nicht nur nützlich wählen“, so Karima, „ich will auch ein Programm.“

Fünftausend „partizipative Debatten“ haben in den vergangenen Monaten in Frankreich stattgefunden. In Hinterzimmern von Wirtshäusern und in großen Vorlesungssälen. Am Ende fassten jeweils „Berichterstatter“ die Vorschläge zusammen, um sie „nach oben“ weiterzuleiten. An die Kandidatin. Die prominenten Intellektuellen sind dieser „partizipativen Debatte“ ferngeblieben. Einige – darunter der Philosoph André Glucksmann – haben öffentlich ihre Unterstützung für Nicolas Sarkozy erklärt. Andere, wie der Medienphilosoph Bernard-Henri Lévy drohen, den Rechtsliberalen François Bayrou zu wählen.

Bis zu den Wahlen bleiben noch knapp drei Monate. Erfahrungsgemäß entscheiden sich die Franzosen in den letzten Wochen. Dennoch ist der Spielraum für Royal eng. „Der Kampf wird hart“, sagt sie in Grenoble, „ich brauche euch. Bleibt so rebellisch wie ihr seid.“ In Grenoble im Publikum knuffelt die 26-jährige Beamtin Irène (26) ihre Freundin Joanne (31) in die Seite und sagt: „Die soll uns jetzt erst mal ein hübsches Programm machen. Wenn sie dann Präsidentin ist, laden wir sie alle sechs Monate vor. Für eine neue partizipative Debatte.