Madeleine und der Beat von Brandenburg

Die Dutschke-Slam-Gewinnerin Madeleine U. ist Urkreuzbergerin und seit neuestem auch Freundin der ostdeutschen Tanzkultur. Denn als Preis winkte ihr ein Wochenende in Luckenwalde. Beim Broiler unterm Sonnenschirm begegnen sich Ost und West – und die Klischees von damals tanzen mit

Beim Bier in der gediegenen Hotelbar wirkt die Wilde von der Bühne ganz zahm

Von Nina Apin

Madeleine U. verliert keine Zeit. Um 17 Uhr hat sie bereits eine ausgedehnte Wanderung durch den Ort, einen Besuch in der Wellnessoase des Hotels und eine Siesta hinter sich. Draußen, im Kombi, warten die Fahrräder für den nächsten Tag. „Erholen und amüsieren“, fasst die 49-Jährige ihre Losung für das Wochenende zusammen. Oft kommt die gebürtige Kreuzbergerin nicht raus aus Berlin, schon gar nicht nach Luckenwalde. Die Zeit ist knapp, deshalb wird der Lebensgefährte geweckt: „Jenug jepennt, Zeit fürs Abendprogramm!“

Das Wochenende in Luckenwalde hat sich U. in knapp fünf Minuten verdient. Beim „Rudi-Dutschke-Impro-Slam“ für die Umbenennung der Koch- in Rudi-Dutschke-Straße im Januar begeisterte sie das Publikum mit einer Anekdote aus dem Linienbus 129: Beim Anblick der Axel-Springer-Zentrale konnte ein BVG-Busfahrer nicht an sich halten und schimpfte über die Scheißimperialisten, U.‘s kommunistischer Vater freute sich. Ihr Vortrag in knackigem Berliner Dialekt und die von Rauschsubstanzen unterstützte Bühnenperformance holten den ersten Platz. Die taz spendierte der Gewinnerin ein Wochenende im Geburtsort Rudi Dutschkes inklusive Broileressen und einem Auftritt der legendären deutschen Beatband Lords. Für viele Besucher im Festsaal Kreuzberg war die rothaarige Wilde in der Lederjacke keine Unbekannte: Madeleine U. ist im Kreuzberger Nachtleben eine Konstante, überall begegnet man ihr, und nicht immer nüchtern.

Beim Bier in der gediegenen Hotelbar wirkt die Wilde von der Bühne ganz zahm, eine normale Frau in Jeans, mit Perlenkette über dem Wollpulli. Auf ihren fulminanten Auftritt angesprochen, winkt sie ab. Sie sei an dem Abend eben ein bisschen „druff“ gewesen: die Stimmung im Saal, die Enttäuschung über den Lebensgefährten Max, der gekniffen habe, das Thema der Veranstaltung … U. wohnt in einer Selbstbaugenossenschaft in der Markgrafenstraße und habe sich über die Anzugtypen von der CDU geärgert, die wochenlang auf der Straße Bürgerstimmen gegen die Umbenennung sammelten. „Es war Ehrensache für mich, was zu Dutschke zu sagen.“ Und ihre Bekanntheit im SO 36? „In Kreuzberg kennt man sich eben“, winkt sie ab, „na und?“ Ihren Freund Max Ronge lernte sie im „Elefanten“ am Heinrichplatz kennen, „natürlich am 1. Mai“, inzwischen hat sie sich mit der Wirtin verkracht. „Längst vergessen, warum. Die wilden Zeiten sind sowieso vorbei“, sagt sie. Das Alter. In den letzten Jahren hat sie ihre Vorliebe fürs Wandern und Radfahren an der Ostsee entdeckt. Irgendwann würde sie gerne mit Max ans Meer ziehen, raus aus Berlin. „Ich brauch den ganzen Trubel nicht mehr, ich könnte auch einfach nur sitzen und kieken.“

Ihr ganzes Leben hat Madeleine U. in Kreuzberg verbracht. Mit Eltern und Bruder wohnte sie in der Alexandrinenstraße, zur Oma in der Bergmannstraße waren es nur ein paar Minuten. Schwimmen lernte sie im Prinzenbad, wo sie heute noch Stammgast ist. Der Vater war Postbeamter und überzeugter Sozialist. Weil er an neue, egalitäre Schulformen glaubte, schickte er die Tochter auf die Gesamtschule nach Rudow. Nach der Elften hatte sie genug, schmiss die Schule und zog von zu Hause aus, in die Mariannenstraße, näher ans Herz der linksalternativen Kreuzberger Szene. Von dort aus reiste sie nach Indien und in andere Ecken der Welt, im Kiez engagierte sie sich bei Hausbesetzungen und wechselnden linken Projekten, je nach Lust und Laune.

Mit 20 schlug sie das Branchenbuch auf und suchte nach einer Ausbildung, die nicht nach langweiliger Büroarbeit aussah. „Ich war die Einzige, die den Beruf der Edelsteinschleiferin erlernte.“ Doch der Charlottenburger Meisterbetrieb, der sie einstellte, ging pleite, und der Meister setzte sich nach Brasilien ab.

Heute trägt U. bunten Modeschmuck ohne Edelsteine. „Seitdem ich die Kinder in einer indischen Mine gesehen habe, weiß ich: Da klebt Blut dran.“ Nach einer Umschulung erlebte U. in einer Kreuzberger Grundstücksverwaltung den Immobilienboom der Wendezeit mit. „Das war eine Goldgräberstimmung für fiese Spekulationen“, erinnert sie sich. „Aber ich beriet die Mieter auf meine ganz eigene Art.“ Lachend erzählt sie, wie ihre Karriere in der Immobilienbranche ein jähes Ende fand, als sie den Chef bei der Weihnachtsfeier ein „imperialistisches Dreckschwein“ nannte. Und der Chefin Sekt in den Ausschnitt goss. „Klassischer Abgang“, sagt U. zufrieden und bestellt noch eine Runde Bier. Der Lebensgefährte ist angemessen beeindruckt.

U. ist jetzt in ihrem Element. Erzählt, wie sie 1988 für die Besetzer des Lenné-Dreiecks Stullen geschmiert hat. Auf dem Streifen Ostberliner Land hinter dem Potsdamer Platz errichteten Alternative eine Zeltstadt, die Westberliner Polizei war machtlos, versorgt wurden die Besetzer aus dem Osten. „Dit war richtig jut“ , berlinert U.. Und schiebt noch schnell die Anekdote hinterher, wie sie letztes Jahr durch eine Maßnahme des Arbeitsamts wieder in ihrer eigenen Grundschule landete, um die Bibliothek zu sortieren. „Das war vielleicht trostlos: seit damals nix gemacht, alles runtergekommen.“ U. engagierte sich für Hausaufgabenbetreuung, wollte etwas ändern, „aber da war die Stelle schon wieder vorbei. Eigentlich traurig.“

Max will die Misere der Berliner Schulen diskutieren, aber U. will jetzt los: zum Broileressen in die Kulturkantine und danach die Lords. Beim nachmittäglichen Spaziergang hat sie den ehemaligen DDR-Tanzpalast begutachtet und freut sich auf ein skurriles Erlebnis mit Ost-Ambiente. Der Fußweg vom Hotel durch die menschenleeren Straßen Luckenwaldes ist allerdings ernüchternd. „Saturday Night, wa?“, kommentiert U., die sich in Lederjacke und Absatzschuhe geworfen hat. Sie befürchtet, dass die Lords vor zehn Leuten auftreten werden.

So schlimm kommt es dann aber nicht: Vor dem abseits gelegenen Flachbau parken einige Autos. Drinnen geht es zu wie bei einem original DDR-Tanzvergnügen. Unter aufgespannten Schirmchen sitzen ältere Herrschaften und ein paar Junge beim Bier, eine resolute Kellnerin serviert Schnitzel mit Puszta-Soße und Broiler, unter einem Himmel voller Luftschlangen bewegen sich Paare im Discofox übers Parkett.

„Die absolute Härte“, entfährt es der Kreuzbergerin, als sie die Szenerie betrachtet. Doch die Glamrock- und Beat-Hits der Siebziger, die vom DJ einzeln angesagt werden, entlocken ihr dann doch ein breites Grinsen – und eine Erinnerung an ihre Tanzstunden in Neukölln, die sie meist schwänzte, um mit Freundinnen in die Disco zu gehen. „Vor dem Abschlussball musste ich noch schnell üben, damit mein Vater nix merkt.“

Beim Broiler-Spezialmenü mit einem Liter Bier muss U. an ihre Besuche in Ostberlin denken. Eine Freundin hatte Verwandtschaft in Marzahn, die zum Sonntagsbroiler eingeladen hatte. U. erinnert sich mit Schaudern an die stickige Enge im Plattenbau. „In allen Familien gab es Broiler, das ganze Haus stank nach Bratfett. Wir schwitzten, und nach dem Essen kam der Wodka auf den Tisch“. Die Freundinnen flohen mit der letzten Bahn Richtung Westen und direkt weiter nach Schöneberg, um auf der Tanzfläche im „Dschungel“ den Mief abzuschütteln.

Auf dem Parkett der „Kulturkantine“ hat sich der Paartanz aufgelöst, man schüttelt sich zu „Ballroom Blitz“ von The Sweet. Zwei ältere Damen haben sich zu den Berlinern gesetzt, sie erlebten die Lords in den Siebzigern in Chemnitz und freuen sich auf das späte Wiedersehen. „Die Lords waren in Chemnitz?!“, fragt U. ungläubig. „Wir waren ja nicht ganz hinter dem Mond“, ist die schmallippige Antwort. „Gary Glitter, Golden Earring, The Lords – hatten wir auch alles“. Nach ein paar höflichen Sätzen über Rudi Dutschke und Luckenwalde versiegt die Konversation.

Als die Lords mit Verspätung anfangen zu spielen, sind Madeleine U. und ihr Lebensgefährte erleichtert. Auch wenn die Prinz-Eisenherz-Frisuren der vier arg ergraut sind: Sie rocken mit Würde und viel Selbstironie. „Und jetzt einer unserer Klassiker aus dem Jahre 1943 in der ganz harten Version!“ U. pfeift so laut, dass die Tischnachbarinnen zusammenzucken. Eine beugt sich herüber und berichtet, dass sie recherchiert habe: Rudi Dutschke sei gar kein echter Luckenwalder, er komme vielmehr aus dem benachbarten Dorf Schönefeld. „Wieder was gelernt“, sagt Madeleine U. gut gelaunt zu ihrem Lebensgefährten. „Ausflüge in die Umgebung bringen immer was.“