MAIK SÖHLER ÜBER DARUM IN LONDON BEI DER „M&M’s WORLD“
: Die Höllen dieser Erde

Dienstag

Jacinta Nandi

Die gute Ausländerin

Mittwoch

Matthias Lohre

Konservativ

Donnerstag

Margarete Stokowski

Luft und Liebe

Freitag

Meike Laaff

Nullen und Einsen

Montag

tba

Überraschung!

Als ehemaliger Linksradikaler glaubt man ja, jeden Abgrund an Gemeinheit und Niedertracht schon gesehen zu haben. Als Agnostiker, dem der Glaube an höhere Wesen, himmlische Paradiese und harfespielende Englein fehlt, auch. Und doch sind es erst Kinder, die uns die Pfade in die wahre Hölle weisen.

Neulich in London: Einige Tipps von Freundinnen hat die Tochter dann doch mit auf die Reise genommen, und sie weiß sie wohl zu dosieren. Es mag am zu dicht geplanten Programm der viertägigen Städtereise liegen, an der für London ungewöhnlichen Hitze dieses Tages oder schlicht daran, dass unsere Kinder so viel reden, dass wir manchmal mit dem Denken gar nicht mehr nachkommen. Wie auch immer: Ich habe nicht Nein gesagt, als die Tochter sagte, wir müssten unbedingt die „M&M’s World“ aufsuchen.

So tapsten wir ihr hinterher, ohnehin schon erschöpft von den Menschenmassen zwischen Leicester Square und Piccadilly Circus an einem Feiertagswochenende. Hätte ich nur eine Sekunde nachgedacht, wäre mir klar gewesen, wie schlau meine Frau doch ist, wie mannigfach gebildet und speziell in der Dichtung Dantes versiert, als sie drei Sekunden nach dem Eintritt ins „M&M’s-World“-Höllentor sagte: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“ („Die Göttliche Komödie“, Inferno III, 9) beziehungsweise: „Das ist nichts für mich, ich warte draußen.“

Tausend Leute drängten indes dorthin, wo schon Tausende sich tummelten. Mehrere Gedanken schossen mir gleichzeitig durch den Kopf: „Ich kann das Kind hier nicht allein lassen“, „das wird jetzt brutal“, „wenn ich das überlebe, bin ich ein anderer Mensch“. Aber mehr als einen Gedanken kann ich nicht verarbeiten. Ich bin nur ein dummes Schaf – und trotte hinterher. Auf vier Etagen werden dort Produkte von „M&M“ angeboten, vom Knabberzeug in allen Varianten, Farben und Formen bis hin zu Merchandise-Unterhosen, -Schlafanzügen, -Stofftieren und allem, was groß genug ist, um ein „M&M“-Logo draufzudrucken.

Dazwischen: Völlig überzuckerte und freidrehende Kinder, genervte Erwachsene, ein Geräuschpegel wie auf der Fanmeile bei einem Sieg der deutschen Nationalmannschaft plus Kirmestechno plus Werbedurchsagen und ein durchdringender Geruch nach Melasse, zu lange gerösteten Nüssen, Schweiß und vollen Windeln. So riecht, klingt und stellt sie sich dar – die Hölle auf Erden. Und der Kapitalismus hat sie sich dienstbar gemacht; Als Belohnung für Leid und Qualen darf man sich an den Kassen auch noch in nicht enden wollende Schlangen einreihen.

Noch immer streiten wir zu Hause, ob die „M&M’s World“ die Hölle der Höllen ist oder ob sie im Ranking der Höllen, in die uns unsere Kinder geführt haben, zwar einen guten, aber eben keinen Spitzenplatz einnimmt. Kann sie anstinken gegen diesen einen Indoorspielplatz, in dem alle Kinder permanent schrien? Wird sie das Eltern-Kind-Weihnachtsbasteln in der Kita auf die Plätze verweisen? Muss sie sich hinter dem „Spaßbad des Grauens“ einreihen? Wir wissen es nicht. Was wir wissen. ist: Unsere Kinder sind noch lange nicht erwachsen. Da geht noch mehr.