Die Sprache der Dinge

FOTOGRAFIE Der Martin-Gropius-Bau zeigt eine große Walker-Evans-Retrospektive. Ihr Kurator James Crump unternimmt für die Ausstellung „Decade by Decade“ bewusst eine längere Zeitreise mit dem Fotografen

Tatsächlich ist viel zu entdecken in den Bildern der späten Jahre

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Zwanzig Jahre lang, von 1945 bis 1965, gestaltete der amerikanische Fotograf Walker Evans den fotografischen Auftritt des Wirtschaftsmagazins Fortune. Diesen Jahren ist der letzte Raum in der Evans-Retrospektive „Decade by Decade“ gewidmet, die jetzt nach Stationen in Cincinnati, Linz und Köln im Martin-Gropius-Bau Berlin gezeigt wird.

1945 muss ein ertragreiches Jahr für den Fotografen gewesen sein: Eine Serie von April 45 gilt den Fischerhäusern aus Mississippi, ihrem überbordenden Wandschmuck aus Familienfotografien und religiöser Ikonografie. Hier setzt sich aus Bildern ein Kosmos zusammen, symmetrische Anordnungen stellen die visuelle Verbindung von Glauben und Familie her. Im Oktober 45 besuchte Evans eine Ballett-Company in New York, auch hier ist das Auge mehr von den Dingen als den Menschen gefesselt: dem Bord mit Eimern voll Löschsand über der Übungsstange, dem Gespenstertanz der Kostüme im Fundus. 1946 fotografierte Evans Billboards in Chicago, teils auf gigantischen Gerüsten an den Ausfallstraßen. Sie wurden zum ikonografischen Motiv der amerikanischen Landschaft.

Walker Evans war nicht glücklich in seiner Zeit bei Fortune, so schreibt James Crump, Kurator für Fotografie am Cincinnati Art Museum und Macher dieser Ausstellung. Evans vermisste die Anerkennung als Künstler, die er Jahre zuvor erfahren hatte, als er als der große Fotograf der Depressionszeit galt. Dass die Reduktion von Evans Werk auf diese Phase viel versäumen würde, ist die Triebfeder von James Crump, der deshalb in „Decade by Decade“ bewusst eine längere Zeitreise mit Evans Fotografie unternimmt.

Tatsächlich ist viel zu entdecken in den Bildern der späten Jahre. Da gibt es die Blicke in New Yorker Schaufenster, Stillleben einer spezialisierten Dingwelt, und Reverenz an Eugene Atget, den so viel älteren Pariser Fotografen, den Evans sehr schätzte. Atget fotografierte ein Paris, dessen Verschwinden schon vorauszusehen war. Auch diese Spur nimmt Evans in Bildern von Baustellen in New York auf, wo ein Wohnhaus mit angeknabberten Mauern wie ein letzter Zahn vor einem neu entstehenden Hochhausriegel steht.

Nun mischt sich in unsere Sensibilität für die Sprache der Dinge, die vor Jahrzehnten zum fotografischen Bild wurden, oft ein Interesse aus der Gegenwart. Evans Bilder von Baustellen, die den Umbruch von kleinteiligen, altmodischen Strukturen zu großformatigen, anonymen Flächen dokumentieren, sind spannend auch deshalb, weil dies immer noch ein Schauplatz des Kampfs um Identität von Städten und ihren Bewohnern ist.

Betrachtet man dagegen seine Bilder aus den 30er Jahren, die in den USA als prägend für das kollektive Gedächtnis an die Depressionszeit gelten, stellt sich etwas anderes ein. Eine Straße mit hölzernen Reihenhäusern von Minenarbeitern, eine Holzkirche auf dem Land, ein Fabrikgebäude: all das wirkt in seiner harschen Bescheidenheit ungeheuer klar und überraschend aufgeräumt im Verhältnis zu den Bildern des verarmten ländlichen Raums, die sich inzwischen im Film und in der Fotografie darübergelagert haben.

Walker Evans war stets ein unpathetischer Fotograf, der die Heroisierung des Menschen in der Arbeit von Kollegen auch ziemlich scharf heruntermachte. Seinen Blick deswegen aber als „unpersönlich“ und „frei von Subjektivität“ zu kategorisieren, wie es James Crump wichtig ist, trifft die Sache auch nur halb. Schließlich ist sich so auf die Beobachtung zurückzuziehen, nach dem Ausschnitt zu suchen, der Dinge über den abwesenden Menschen erzählen lässt, auch eine Haltung.

Einige schöne Porträts von Freunden und Künstlern gehören auch zu der Ausstellung. Doch viele Porträts von Unbekannten, von Passanten, Wartenden, Subway-Fahrenden, darunter auch von vielen Schwarzen, entstanden unter der Voraussetzung, als Beobachter nicht wahrgenommen zu werden, die Selbstvergessenheit zu erwischen, den Augenblick, in dem der Dargestellte nicht mit der Darstellung seiner Selbst beschäftigt ist. Viele Jahre später beschrieb Evans seine Intention bei den Aufnahmen mit versteckter Kamera zum Beispiel in der New Yorker U-Bahn: „Eine Rebellion gegen das Studioporträt. Ich war aufgebracht. Es war ein zum Teil sehr wütender Protest, nicht gesellschaftlich ausgerichtet, sondern vielmehr ästhetisch – gegen jegliche Pose in der Porträtfotografie.“

Evans, der bekanntlich die Arbeit in der Dunkelkammer nicht besonders liebte, ließ seine Abzüge oft von anderen Fotografen und Laboranten machen. Vor seinem Tod 1975 verkaufte er Tausende Abzüge; darauf beruht die Ausstellung zum großen Teil. Im Katalog von Hatje Cantz je auf einer Seite reproduziert, wirken sie dort viel größer als im Nebeneinander an der Museumswand. Tatsächlich kommt ihnen Blättern und Lesen im Buch als Modus der Rezeption sehr entgegen.

Auf einiges in Crumps Auswahl hätte man auch verzichten können, wie eine Serie von Gladiolen, die gleich zu „botanischen Studien“ werden. Insgesamt aber lohnt es sich, mehr als die Bilder aus den 30er Jahren zu sehen zu bekommen.

■ „Walker Evans. Ein Lebenswerk“. Martin-Gropius-Bau bis 9. 11.; bis 10. 8. tägl. 10–20 Uhr; ab 11. 8. Mi.–Mo. 10–19 Uhr

■ Katalog „Walker Evans: Decade by Decade“. Hatje Cantz Verlag, im Museum 29 Euro, im Buchhandel 49 Euro