IN SCHLESWIG-HOLSTEIN GIBT ES IN DER GRUNDSCHULE KEINE NOTEN MEHR – KINDER MÜSSEN ABER LERNEN, DASS SIE NICHT IN ALLEM GUT SIND
: Bewertungssysteme sind Krücken

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Im August wird in Schleswig Holstein die notenfreie Grundschule eingeführt. Das heißt, dass die Kinder nicht mehr, wie bisher, ab der dritten Klasse Noten bekommen werden. Manche finden das richtig, manche finden das falsch. Gegen Noten spricht, dass Lehrer subjektiv, also ungerecht entscheiden, dass sie Schüler bevorzugen und andere benachteiligen, dass sie mit unterschiedlichen Maßstäben herangehen und dass Kinder und vielleicht Menschen allgemein, sich nur schwer in ein allgemeingültiges Bewertungsmuster fügen lassen, das so simpel aufgebaut ist wie das Notensystem in der Schule.

Menschen sind so schwierig zu erfassen, so schwer zu begreifen und ihre Stärken und Schwächen so vielschichtig und unerforschlich, Menschen sind im Ganzen ein Rätsel. Die Gegner des Benotungssystems haben vielleicht genau das im Sinn, vielleicht wollen sie die Kinder, oder vor allem auch ihre Kinder, vor der immer in so einem System enthaltenden Ungerechtigkeit beschützen.

Einem Kind zu sagen, dass es schlecht ist, in irgendetwas, bringt das was? Hilft das was? Wofür ist die Schule da? Soll sie den Kindern einen Platz zuweisen, in ihrer Gesellschaft von Gleichaltrigen, in Vorbereitung auf das Erwachsenenleben, wo sie ihren Platz auch zugewiesen bekommen werden? Soll sie nicht besser ermutigen, anregen und anspornen? Geht das überhaupt mit Zensuren? Ist ein Kind, das mit Mühe eine Vier schreibt, damit zu ermutigen? Denn eine Vier ist in ihrer allgemeinen Bedeutung keine Ermutigung. Manch ein Kind bricht über eine Vier in Tränen aus, wie soll das Kind, dass sich die Vier erkämpft hat, dann darüber freuen können? Ich weiß es nicht.

Ich sehe das so und ich sehe es auch anders. Als meine Kinder anfingen, Zensuren zu bekommen, änderte sich für mich nichts. Ich wage es zu behaupten: für die Kinder auch nicht. Manchmal kamen sie an und beschwerten sich über die Ungerechtigkeit einer Note. Was macht man dann als Mutter, als Mensch? Man zuckt mit den Schultern. Es ist nichts Dolles, es ist nur eine Note. Vielleicht ist sie ungerecht. Möglich. Ein Lehrer ist nur ein Mensch. Vielleicht irrt er, vielleicht kann er dich sogar nicht leiden, kann alles sein. Die Welt ist insgesamt nicht gerecht. Die Aufteilung der Güter, aller Güter, ist ungerecht. Wie wir hier leben, so sorglos und verschwenderisch, angesichts der Armut in der Welt, das ist eine gewaltige Ungerechtigkeit. Aber eine ungerecht vergebene Note lohnt nicht das Ärgern.

Finde dich mit dieser kleinen Art von Ungerechtigkeit in deinem Leben ab. Das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Das lernt ein Kind, wenn es eine ungerechte Note bekommt. Was lernt ein Kind noch, wenn es benotet wird? Es lernt, dass es schlechter in irgendetwas ist als ein anderes Kind. Das finden viele Eltern schlimm, weil sie es nicht ertragen, dass ihr Kinder in irgendetwas schlechter sein soll. Sie denken, es würde das Kind schlimm verletzen, aber das Kind verletzt das nicht schlimm, die Enttäuschung der Eltern verletzt das Kind.

Das Kind muss jedoch lernen, dass es schlechter in irgendetwas ist als andere Kinder. Denn es wird den Rest seines Lebens schlechter als irgendjemand in irgendetwas sein. Es muss auch lernen, dass schlechter in irgendetwas sein, nicht heißt, dass es ihm nicht gut gehen kann, dass es sich nicht wohl fühlen darf und dass, vor allem, es nichts wert ist.

Wichtig ist, dass es sich anstrengt und seinen eigenen Weg geht. Wichtig ist nicht, dass es eine Eins schreibt. Das muss das Kind lernen. Wichtig ist, dass es glücklich wird, unabhängig von Bewertungssystemen, denn das sind Krücken, deren Bedeutung relativ ist. Was also ist besser, Zensuren oder keine Zensuren? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es sogar fast egal.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012 bei Rowohlt. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen. Die Kolumne macht zwei Wochen Sommerferien und erscheint am 20. August wieder.