FRÜHER ABSCHIED
: Im Lovelite

„Die hat doch eine Essstörung“, flüstert meine Freundin

Die wenigen kinderfreien Abende müssen wir nutzen. Endlich mal abends ausgehen. Weil sich der Rhythmus unseres Lebens in den letzten Jahren an unserem Nachwuchs orientierte, stehen meine Freundin und ich bereits gegen 18 Uhr vor dem Lovelite. Das kommt uns schon ganz schön spät vor. Wir sind immerhin nicht die Ersten. Die Abschiedsparty hat bereits begonnen.

In einigen Wochen rollen die Abrissbagger herbei, um Platz zu schaffen für Eigentumswohnungen. Heute wird noch mal gefeiert. Wir setzen uns auf eine der Bierbänke. Vor uns Brother Grimm, ein Folkgitarrist mit Bonnie-Prince-Billy-Bart. Überhaupt, die Bärte. Als ich das letzte Mal im Lovelite war, trugen die Männer hier noch keine und auch keine eleganten, spitz zulaufenden Lederschuhe. Ist das schon wieder so lange her?

19.30 Uhr. Erschöpfung setzt ein. Das Leben als Eltern fordert seinen Tribut. Eine junge Mutter mit neugeborenem Baby taucht auf und nimmt neben uns Platz. Ihr Kind sieht aus, als sei es gerade erst geschlüpft. Sie, als könne sie morgen beim Casting von Germany’s Next Topmodel vorsprechen. Sie zieht sofort alle Blicke auf sich. „Die hat doch eine Essstörung“, flüstert meine Freundin. „So kurz nach der Geburt kann man doch gar nicht so dünn sein.“ – „Vielleicht hat sie ihr Kind wie Beyoncé von einer anderen Frau austragen lassen“, meine ich. Die Schönheit hält es nicht lange neben uns aus. Sie erhebt sich mit dem Baby, das sie wie ein Handtuch über den Arm gelegt hat, und stolziert histrionisch über den Hof. Was macht sie eigentlich hier? Ist sie nicht viel zu makellos für diesen Ort sterbender Subkultur? Vielleicht möchte sie eine Wohnung kaufen und das Gelände schon mal inspizieren.

21 Uhr. Von Müdigkeit bei ihr noch keine Spur. Bei uns schon. Zeit für uns, nach Hause zu gehen. Es war ein langer Tag.

STEPHAN SERIN