Im Zombie-Stadl der Musikgeschichte

POP Albrecht Hirche inszeniert die Neue Deutsche Welle im Centraltheater Leipzig. Dabei umschifft er gekonnt die Tücken dieses sattsam durchgehechelten Musikkapitels und lädt ein zum unpeinlichen Revival mit allerlei Brechungen

Die Musiker tragen Armeestiefel mit weißen Schnürsenkeln. Alles, was provoziert, war ja damals gut

Am Anfang ist Blondie. „Heart of Glass“ mit dem symptomatischen „Uh-Ooh“ beginnt den bunten Theatermusikreigen „Neue Deutsche Welle“, den Albrecht Hirche im Leipziger Centraltheater am Sonnabend zur Uraufführung gebracht hat. Ein Abend mit viel Musik der frühen 1980er Jahre und einem verständlichen Abscheu vor den zahlreichen eingängigen musikalischen Ohrwürmern jener Zeit, die aber irgendwie auch dazugehören.

Dabei ist die Neue Deutsche Welle eigentlich auserzählt. Mit Jürgen Teipels „Verschwende Deine Jugend“ und Frank Apunkt Schneiders „Als die Welt noch unterging“ schien alles zu dieser mehr oder weniger wilden Zeit zwischen Punk, Wave und dem ganzen Rest gesagt. Den Regisseur Albrecht Hirche, Absolvent der angewandten Kulturwissenschaften in Hildesheim und gefragter Regisseur, der immer das theatrale Moment dem Geschichtenerzählen vorzieht, ficht das nicht an. Er komponiert aus dem Stoff einen synästhetischen Abend, in dem er deutscher Musikgeschichte mithilfe des Theaters nachfühlt. Der passende Ort dafür ist die Hinterbühne des Centraltheaters. Die Zuschauer sitzen nah dran, es gibt keine Distanz, dafür den vollen Bühnenapparat, den Hirche, der auch für die Ausstattung verantwortlich ist, zu nutzen weiß.

Nach einem wilden Ritt von Blondie über die Ramones und die Sex Pistols, alles live gespielt und gesungen von der Band aus Schauspielern, fallen im gefühlten Jahr 1979 alle in ein kollektives Koma. Unter Handtüchern liegen die sechs Ensemble- und vier Bandmitglieder auf der Drehbühne mit dem drei Meter hohen Wachturm/Hochsitz. Figuren in Fantasieuniformen, die irgendwo zwischen Schützenverein, Polizei und Wehrmacht angesiedelt sind. Die Musiker tragen weiße Anzüge mit lila Schlipsen sowie Armeestiefel mit heutzutage politisch unkorrekten weißen Schnürsenkeln. Aber alles, was provoziert, war ja damals gut.

Dann kommen die Synthesizer. Mit ihnen beginnt der Kern des Abends, die Geschichte der Neuen Deutschen Welle. Evolutionär entsteigen dem Urschlamm des elektronischen Sounds Geräusche und schließlich Melodien, die die Bühnentoten zum Leben wiedererwecken. Als hyperaktive Musikzombies bevölkern sie von nun an die Bühne und begeben sich auf eine Tour de Force durch die Jahre 1980–85. Aus anfänglichen Zuckungen werden ganze Gesangsnummern, von Palais Schaumburg geht es über Mittagspause und Fehlfarben bis zu DAF und Mania D., die sich dem Publikum sogar persönlich vorstellen und in ihre Philosophien einführen dürfen. Streng pädagogisch werden alle Musikstücke von zwei maskierten Clowninnen, die auch für Umbauten und Aufräumarbeiten zuständig sind, auf Pappschildern vorgestellt.

Das ist rasant und kraftvoll, aber auch erwartbar. Die zahlreichen Brechungen, Verfremdungen, Spasmen zielen nicht nur auf die Musik, sondern docken an die Geisteshaltung jener Zeit an, diesen künstlichen Hedonismus, der die atomare Apokalypse jeden Moment erwartete – bevor dann alles Pop wurde. Diesem verweigert sich die Crew: Populäre Hits wie „Da da da“ oder „Hurra, die Schule brennt“, überführen die SchaupielerInnen in filigrane Spoken-Word-Performances, was die Sinnlosigkeit dieser letzten NDW-Texte umso deutlicher macht.

Irgendwann dringt die deutsche Teilung ins Spielgeschehen ein. Dem bekannten West-Kanon wird der Ost-Underground entgegengestellt. Obermeister und Zeitzeuge ist der Leipziger Subkultur-Entertainer Ralf Donis, der mit dem Prinzen Sebastian Krumbiegel im Schlepptau über die Untiefen des subkulturellen Schaffens bis 1989 in den fünf neuen Bundesländern aufklärt und mit dem „Liebeswalzer“ von Silly den Osten Genugtuung erfahren lässt. Währenddessen beginnen vom Schnürboden 99 Luftballons zu regnen, sodass einem diese akustische Version erspart bleibt.

Albrecht Hirche ist ein kurzweiliger Abend gelungen, der Spaß macht, aber auf dem Theater manches Mal zu kurz greift. Trotz einer großartigen Leistung von Ensemble und Band bleibt das Gefühl, dass in dem Stoff mehr drin gewe- sen wäre. Aber vielleicht hatten DAF, wie sie im Stück zitiert werden, auch einfach nur recht, wenn sie sagen: „Die Leute sollen nicht analysieren, sondern feiern.“ Aus dieser Perspektive ist der Abend sehr stimmig.

TORBEN IBS

■ Wieder am 9. 3., Centraltheater Leipzig