Vier Länder im Kunstrausch

Mit „Luxemburg und die Großregion“ überschreitet Europas Kulturhauptstadt 2007 erstmals Landesgrenzen. Einige Ausstellungen im Kulturprogramm sind schon seit letztem Jahr zu sehen

von MARCUS STÖLB

Juliette Meyers weiß Bescheid. Im Tourist-Info-Point an Luxemburgs „Gare“ erfährt man von ihr alles rund um Europas Kulturhauptstadt 2007. Alles? Nun ja, eine Frage bringt die eloquente Luxemburgerin dann doch in Verlegenheit: was es denn mit dem blauen Hirsch auf sich habe, der einem allüberall von Programmheften und Plakaten entgegenröhrt? Juliette Meyers runzelt die Stirn, schmunzelt und gesteht schließlich ein: „Das kann ich Ihnen auch nicht so recht sagen.“ Nach kurzem Zögern ergänzt sie: „Aber es soll wohl damit zu tun haben, dass es in der Großregion so viel Wald gibt“.

Tatsächlich ist ein Drittel der sogenannten Großregion bewaldet, doch das hat herzlich wenig mit jenem Ereignis zu tun, für das hier geworben wird: „Luxembourg et Grande Region – Capitale européenne de la culture 2007“. Erstmals sprengt eine europäische Kulturkapitale nicht nur Stadtgrenzen, sondern bezieht auch gleich noch Landesteile von vier Nationen mit ein. Neben dem Großherzogtum sind Rheinland-Pfalz und das Saarland, das belgische Wallonien und auch Lothringen in Frankreich mit von der Partie. Tatsächlich liegt der Reiz des Konzepts darin, dass sich ein kulturell so vielseitiger und historisch wechselhafter Grenzraum wie die Großregion nach außen erstmals als Ganzes präsentiert. Denn wo sonst erlebt man in wenigen Tagen vier so unterschiedliche Städte wie Trier, Luxemburg, Metz und Saarbrücken, die allesamt eigentlich nur eines verbindet: dass sie jeweils eine Autostunde voneinander entfernt liegen. Europa „en miniature“ ist die Großregion, was auch heißt, dass Licht und Schatten europäischer Geschichte sich räumlich nahe kommen. Man kann hier die einstigen Schlachtfelder von Verdun ebenso besuchen wie das eher verschlafene Winzerkaff Schengen – ohne das nach dem Moseldorf benannte Abkommen gäbe es die Großregion in ihrer jetzigen Form nicht. Luxemburg, das bereits 1995 Europas Kulturhauptstadt war und damit zugleich die erste Stadt ist, die diesen Titel jetzt ein zweites Mal tragen darf, bildet das Zentrum der Großregion. Auf dem Bockfelsen gelegen, hat sich die gerade mal 80.000 Einwohner zählende Kleinstadt in den vergangenen zehn Jahren vom Kulturnest zur multikulturellen Metropole gewandelt – und sich hierbei dennoch ihren teilweise provinziellen Charme bewahren können. Mehr als 60 Prozent der Hauptstadtbewohner sind Ausländer, Menschen aus 150 Staaten hat es hierher verschlagen. Pulsierende Internationalität und beschauliche Selbstgenügsamkeit begegnen sich auf engstem Raum, was mitunter dazu führt, dass sich die Proportionen verschieben. Nirgends zeigt sich das so sehr wie auf dem Kirchberg, jenem aufstrebenden Stadtteil, der im kommenden Jahr mehr denn je Kulturtouristen anlocken dürfte. Eingezwängt zwischen schlichten Hochhäusern, die eine „Porte de l’Europe“ bilden, ragt hier die neue Philharmonie empor. Mehr als 800 kalkweiße Steinkolonnen bilden die lichtdurchflutete Fassade des imposanten Musiktempels. Ein Programm von Weltniveau füllt selbst das 1.500 Menschen fassende „Grand Auditorium“, jeder zehnte Besucher kommt inzwischen von jenseits der Landesgrenzen.

Keine fünf Fußminuten entfernt liegt das im vergangenen Sommer eröffnete „Musée d’Art Moderne Grand-Duc-Jean“, kurz MUDAM. Und auch hier hat mit dem sinoamerikanischen Architekten und Louvre-Pyramiden-Schöpfer, Leoh Ming Pei, ein Mann von Weltruf Hand angelegt.

Da können die anderen Städte in der Großregion nur bedingt mithalten, doch ein Abstecher zu den Ablegern der Kulturhauptstadt lohnt sich allemal und will auch gut geplant sein. So bietet sich ein Trip nach Trier vor allem ab Juni kommenden Jahres an, wenn in den drei großen Museen der Moselstadt die Konstantin-Ausstellung öffnet. Dank umgestalteter Plätze und einer Fülle neuer Straßencafés verströmt das „Rom des Nordens“, wie Trier sich mitunter unbescheiden nennt, verstärkt mediterranes Flair. Im kommenden Jahr nun sollen 1.500 Exponate aus 160 Museen das Leben und Wirken des ersten christlichen Kaisers, der Trier einst zu seiner Residenz auserkor, erzählen. Doch auch wenn die Ausstellungsmacher versichern, den umstrittenen Herrscher nicht glorifizieren zu wollen, so droht doch genau dies. Weshalb auch schon Planungen für eine Gegenausstellung laufen. In Trier zeigt sich auch die Crux des Kulturhauptstadtkonzepts: Viele Angebote haben wenig mit dem grenzüberschreitenden Event zu tun. So ist die Kaiser-Schau eine Landesausstellung, die nun als Teil der Kulturhauptstadt verkauft wird. Davon haben alle was, doch Kritiker raunen, dass vieles in das Programm reingepackt worden sei, was so oder ähnlich ohnehin gelaufen wäre. Auch die sehenswerte Paul-Klee-Ausstellung „Tempel – Städte – Plätze“ im Saarbrücker Saarlandmuseum darf man getrost hierzu zählen, wird sie doch bereits seit Mitte Oktober gezeigt. Und im industriegeschichtlich eindrucksvollen „Weltkulturerbe Völklinger Hütte“ will man nun mit der Verlängerung der seit einigen Monaten gezeigten Ausstellung „Macht & Pracht. Europas Glanz im 19. Jahrhundert“, ins Kulturhauptstadtjahr starten. Im französischen Metz, aus der die imposante gotische Kathedrale Saint- Etienne herausragt, wartet man gar mit einer Baustelle auf. Die Hauptstadt Lothringens, die zwischen 1870 und 1914 zum Deutschen Reich zählte, lockt mit seinen engen Gassen und einer Fülle interessanter Gebäude aus baugeschichtlich unterschiedlichsten Epochen. Doch auf einem riesigen Areal unweit des noch in preußisch protziger Tradition errichteten Hauptbahnhofs künden Bagger und Lärm nun von der Zukunft: Hier entsteht im kommenden Jahr ein heller Lichttempel – und mit ihm die erste Außenstelle des Pariser Centre Pompidou. Frühestens Anfang 2008 und damit nach dem Ende der Kulturhauptstadt wird das Gebäude eröffnet. Man werde „im Jahr 2007 die Geburt des Centre Pompidou-Metz miterleben“, versprechen derweil die Programmmacher.

Eva Mendgen wird nicht bis 2008 warten können, soll ihr Projekt ein Erfolg werden. Seit zwei Jahren arbeitet die Saarbrücker Kunsthistorikerin an einem Buch, das eine „kulturell geprägte, sehr subjektive Sicht“ der Großregion liefern wird. Zehn französische und deutsche Autoren sind beteiligt, Fotografen, Übersetzer und Grafiker ebenso. Eva Mendgen ist davon überzeugt, dass es ohne „2007“, wie das Kulturhauptstadtjahr hier allenthalben genannt wird, undenkbar gewesen wäre, ein solches Projekt zu realisieren.

Ob Eva Mendgen das Rätsel um den blauen Hirsch lüften kann? Für die „2007“-Macher ist der Waldbewohner schlicht ein „Migrationstier par excellence“, der in allen Teilregionen beheimatet ist. Seine nicht eben naturgetreue Farbgestaltung solle „zu Überraschungen einladen“, so die Logo-Philosophie. Eine rote Kröte hätte es also auch getan.