jazzkolumne
: Mit allem, was ich tue, bin ich Protest

Es ist so weit: Der Saxofonist David Murray nimmt als erster Musiker seit langem wieder die Tradition des politischen Jazz auf

Ihm geht es darum, Probleme zu lösen, sagt David Murray. In seiner neuen Komposition „Political Blues“ beklagt er die Situation des schwarzen Amerikas, wie sie durch den Hurrikan Katrina deutlich wurde. In New Orleans habe man gesehen, was die amerikanische Regierung von den Menschen, die sie einst auf Booten holte, um sie zu Sklaven zu machen, heute hält, erklärt der Saxofonist im Interview. Es sei doch unglaublich, dass sich politisch nichts bewegt, wenn es um die Verbesserung der Lebensbedingungen für die afroamerikanische Bevölkerung geht.

Der Saxofonist David Murray hat mit der neuen CD seines World Saxophone Quartet eine Lücke geschlossen – seit Bush im Amt ist, gab es zwar viel verbalen Protest von Jazzmusiken, jedoch kaum eindeutige musikalische Über- und Umsetzungen. Das Eröffnungsstück „Political Blues“ der gleichnamigen beim kanadischen Justin-Time-Label erschienenen CD ist übrigens nicht das einzige Stück, das die Katrina-Erfahrung ins Zentrum stellt. Murray hat für dieses Album eine ambitionierte Riege afroamerikanischer Avant-Musiker engagiert, um den Faden der politisch inspirierten Jazzmusik wie Archie Shepps „Attica Blues“ und Charles Mingus’ „Fables of Faubus“ wieder aufzunehmen. „Mit allem, was ich tue, bin ich Protest, die Tradition der schwarzen Musik ist der Widerstand“, beteuert Murray. „In Afrika waren die Trommeln das Kommunikationsmedium, wir haben die Musik als Widerstandsmedium auf eine neue Stufe gehoben. Alles, was wir erfunden haben, ist von anderen kopiert wurden, so oft, dass viele nicht mehr wissen, wo die Basis ist: Wir, mein Volk, sind die Erfinder.“

Stanley Crouch hatte Murray Mitte der Siebziger nach New York geholt, wo der Publizist und Aktivist aus der Loft-Szene ihn als Nachfolger von John Coltrane aufbauen wollte. Bei Murrays Hommage an Albert Ayler, „Flowers For Albert“, spielte Crouch noch Schlagzeug. Doch bald wechselte Crouch die Seiten, alles, was nach Avantgarde und Free Jazz roch, war ihm nun verhasst; alles, was nach Wiederbelebung einer ausgelaufenen Tradition klang, wurde von ihm fortan bejubelt. Blues und Swing wurden zu Losungen, Ralph Ellison und Albert Murray zu Stichwortgebern und der 1961 geborene Trompeter Wynton Marsalis zum neuen Helden.

Der 1955 geborene David Murray wird indes nicht müde, sich als Opfer der Marsalis-Revolution im New Yorker Jazz zu begreifen. Mittlerweile lebt er mit seiner Familie in Paris, doch der große Streit mit Marsalis ist für ihn nicht vorbei: „Zu viele Musiker, die wirklich gut spielen können, wurden bewusst übersehen, weil er es so wollte. Er hat die Karrieren von kreativen Musikern zerstört, und das ist gefährlich. Jazz at Lincoln Center ist zu einer Jazzmacht in New York geworden, die sehr einflussreich ist. Ich sehe da leider nur die negativen Auswirkungen von Machtmissbrauch“, berichtet Murray. Mit „Bluocrazy“ findet sich auf „Political Blues“ auch eine radikale Abrechnung mit den Neotraditionalisten um Marsalis. Ob das von den Traditionalisten geforderte Back to basics auch beinhalte, dass man sich wieder in die Sklaverei begebe, rezitiert Harris in seinem Poem, und 40 Jahre Jazz-Avantgarde könne man, wie Marsalis, nicht übergehen. Im Gegenteil: Harris bemüht selber neue Definitionen für diese aktuelle Version der Fire Music – von soulful collective und independent we ist hier Rede, und die Musik des World Saxophone Quartet klingt entsprechend bluesbetont und aus der Schatztruhe des freien explosiven Jazz schöpfend.

Im Interview berichtet Murray auch, dass er in der Kirche seines Vaters aufgewachsen ist. Seine Mutter war Pianistin und leitete die Band und den Chor der Kirche. Soweit es die Kirche betrifft, sei sogar er ein Traditionalist: „Da wird gebetet und gesungen, so wie es schon immer getan wurde. Ich habe andere Religionen ausprobiert, aber ich bin immer wieder zurückgekehrt. Ich liebe die Spiritualität, die Dichte, die Forschung. Besonders in John Coltranes Musik. Als ich begann, Marihuana zu rauchen, also so mit 12, da hörte ich zum ersten Mal ‚A Love Supreme.‘ Alle waren damals bekifft und hörten Coltrane und Grateful Dead.“

In jüngster Zeit hat Murray nun festgestellt, dass afroamerikanische Bands bei europäischen Festivals immer seltener werden, und der Verweis auf sein „Volk“ klingt nicht zufällig nach dem kürzlich erst vom Saxofonisten Branford Marsalis neu formulierten Besitzanspruch auf den Jazz. Dass europäische Musiker sauer sind, wenn amerikanische Kollegen ihnen bei den großen europäischen Sommerfestivals die Jobs wegnehmen, verstehe er, sagt Murray, doch akzeptieren will er es nicht. Die Europäer mögen ja sogar glauben, dass ihnen der Jazz gehört, weil sie ihn in den letzten 50 Jahren gelernt haben, sagt er: „Es hängt also jetzt davon ab, welchen Jazz sie hier hören wollen. Es gibt europäischen Jazz, ganz klar. Wenn man den Blues und Gospel aus dem Jazz herausfiltert, hat man die beiden wesentlichen Elemente der afroamerikanischen Erfahrung gelöscht“. Doch was für einen Jazz hat man dann? „Statt mit wirklich guter Musik wurde das Publikum von einer selbst ernannten Avantgarde oft genug mit eher bemitleidenswerten Tongebilden abgespeist“, fügt Murray hinzu, und er kenne heute viele Bands, die immer noch so operieren. Wenn er das rieche, gehe er lieber an die Bar oder in den nächsten Hiphop-Laden, um sich nicht zu langweilen.

CHRISTIAN BROECKING