berliner szenen Wohnungsbesichtigung

Zu viele Penisse

Neulich habe ich eine Wohnung besichtigt. Oder besser gesagt: ich habe es versucht, aber es war nicht möglich, weil ich zu schamhaft war.

In dieser Wohnung standen überall Phallussymbole. Aus Stoff, Gips, Ton, in allen Formen, Farben und Größen. In jeder Ecke entdeckte ich einen Stoffpenis oder eine nachgebildete Rieseneichel aus Ton. In einigen Zimmerecken standen auch kopulierende Pärchen aus Gips. Ich ließ also nur flüchtige Blicke schweifen, ohne weiter in die Räume hineinzugehen und sagte: „Ja, sehr schön.“ (Ich meinte die Wohnung, nicht die Penisse). Die Mieterin schien meine Verlegenheit nicht zu bemerken. Sie sagte immerzu: „Sehen Sie sich nur um.“ Als ich eine Gardine zur Seite zog, um nachzusehen, ob die Fenster neu waren, stand hinter der Gardine natürlich auch ein Gipspenis. Ich ließ die Gardine erschrocken wieder fallen.

Um irgendwie von diesem Übermaß an Genitalien und meiner Verlegenheit abzulenken, fragte ich nach den Nebenkosten. Die Frau holte einen Ordner aus einem Regal (in dem ein kopulierendes Pärchen aus Elfenbein stand) und schlug ihn auf. „Hier müsste irgendwo die Abrechnung der Stadtwerke sein“, murmelte sie. Sie blätterte ein paar Seiten um. „Ach, nein, das sind nur meine Scheidungsunterlagen“, sagte sie. Sie blätterte noch ein paar Seiten um. „Hier müssten sie doch sein“, meinte sie. „Aber hier sind nur die Unterlagen von meiner Scheidung.“ Sie sprach so laut, als wolle sie ein Gespräch über ihre Scheidung beginnen. Ich hätte sie natürlich fragen können, ob die vielen Phallussymbole eine Kompensation dafür waren. Aber ich verließ fluchtartig die Wohnung und habe schließlich eine andere gemietet, in der keine Stoffpenisse waren. SANDRA NIERMEYER