Romane aus der Kamera

Schnappschüsse ohne Zufälligkeit: Die Werkschau „Photographien“ von Sibylle Bergemann in der Akademie der Künste offenbart vor allem den alltagstauglichen Reporterblick der Berliner Fotografin

VON BRIGITTE WERNEBURG

Eine typische DDR-Plattenbausiedlung im Winter. Eine Schwarzweißfotografie hält das Treiben auf der Eisfläche vor den Wohnsilos fest. Ist es nicht idiotisch, sich ausgerechnet durch dieses Bild an Breughel erinnert zu fühlen? Das strenge Modulraster der Bauten kann diese Assoziation wohl kaum verursachen, genauso wenig das Dutzend Schlittschuhläufer, deren Freizeitkleidung aus dunklem Anorak und dunkler Hose sie zu recht uniformen Figuren macht. Trotzdem – unwillkürlich drängt sich mit dieser Szene das Wort Vergnügen auf, das direkt zu Breughel führt. Denn die Fotografie erzählt ganz unkompliziert eine altbekannte Geschichte. Sie handelt davon, wie die Menschen die kurze Zeit des Eises, die die Eintönigkeit ihres Alltags unterbricht, nutzen; wie sie den unverhofften Spaß des beschwingten Dahingleitens genießen. Selbst die Häuser blicken heiter in die Gegend. Ganz unerwartet schick schauen sie aus, in der fernen Perspektive, die Sibylle Bergemann mit ihrem Kamerastandpunkt gewählt hat, und der gegenüber den Eisläufern nur leicht erhöht liegt. In „Marzahn, Springpfuhl, 1980“ ist eine allzu oft vergessene, freundliche – und dabei auch ein bisschen unbedarfte – Moderne mit ihrem Bemühen, wiederzuentdecken, Komfort und Wohnluxus auch einer breiten Bevölkerung zu ermöglichen.

„Sie kann schreiben mit nahezu nichts“, sagt der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom über Sibylle Bergemann. Exakter lässt sich die Erfahrung beim Betrachten ihrer Aufnahmen nicht benennen. Denn so lapidar und einfach sie wirken, so vielschichtig entwickelt sich die Geschichte, die sie jeweils erzählen. Es erstaunt nicht, dass Sibylle Bergemann, 1941 in Berlin geboren, zunächst als Modefotografin für die Zeitschrift Sibylle bekannt wurde. Mit wenigem in der Lage zu sein, gewissermaßen einen ganzen Roman zu fotografieren, dieses Vermögen ist besonders in der Modefotografie gefragt. Als Bergemanns Modefotos Anfang der 80er-Jahre auch im Westen bekannt wurden, beherrschte hier allerdings der pornografisch angehauchte Thriller von Guy Bourdin (1928–1991) oder Helmut Newton (1920–2004) die Magazine. In diesem Kontext wirkten Sibylle Bergemanns stille Modefotografien, die häufig eher an kostbare, romantische Frauenporträts erinnerten, besonders verwunschen und exotisch. Es verfestigte sich der Eindruck einer durchweg entrückten, verträumten, fotografischen Sensibilität. Ein Eindruck, der durch die Kleider und Accessoires noch bestärkt wurde, da sie eher Kunsthandwerk als Mode zeigten.

Das Verdienst der rund 150 Arbeiten unfassenden Werkschau, die derzeit in der Akademie der Künste zum Europäischen Monat der Fotografie zu sehen ist, liegt nun vor allem darin, gegen diesen bislang dominierenden Eindruck Sibylle Bergemanns alltagstauglichen Reporterblick stark zu machen. Sicher, Bergemanns Romantizismus wird mit einigen Bildstrecken gefeiert, etwa den Polaroidporträts von den behinderten Darstellern des Ramba-Zamba-Theaters, die Sibylle Bergemann sieben Jahre lang begleitete; oder der Bildstrecke, die in Zusammenarbeit mit Wenzel Storch entstand. Dessen Filme spielen stets in einem barocken, fantastischen Set, das Storch aus der Konkursmasse der Konsumgesellschaft, also ihrem Abfall, zusammenbastelt. Doch aus diesem typischen Bergemann-Bilderbogen stechen ihre kühlen, seit den 70er-Jahren entstandenen Berliner Stadtansichten dann besonders hervor.

Sibylle Bergemann nähert hier den Schnappschuss dem Stillleben so weit an, dass das Bild zwar das Glück der besonderen Bewegung und Begegnung von Personen und Dingen im Raum, also die besondere Konstellation des entscheidenden Augenblicks bewahrt, dass gleichzeitig bei seinem Entstehen aber jede Zufälligkeit ausgeschlossen scheint. Auf wundersame Weise vermag es Bergemann, mehr Zeit – und damit mehr erzählerischen Reichtum – in den kurzen Moment des Bildauslösens zu gießen, als es eigentlich möglich ist.

Als hervorragende Reporterin, die Sibylle Bergemann ist, hat sie nach der Wende dann auch gleich die Redaktion von Geo erkannt, die sie seither um die Welt schickt. Eine Bilderserie aus dem Senegal vereint dabei aufs Schönste Reisereportage und Modefotografie. „Sophie, Dakar, 2001“ steht in ihrer prächtigen Robe, die mit Riesenpailletten bestickt ist, die CDs sein könnten, in einer ärmlichen Straße vor einem ockerfarbenen Flachbau. Eine Szenerie, die sich nicht wesentlich von der in Ghana unterscheidet, wo Bergemann einfach Land und Leute fotografierte, wo aber die prachtvollen Sonnenschirme und die vermeintlich schlichten schwarzen Kleider, in denen Bergemann drei Frauen antrifft, sofort den Eindruck vermitteln, man befinde sich auf einer Modenschau. Ganz unerwartet, da sie bis in die 90er-Jahre hinein vornehmlich schwarzweiß arbeitete, zeigt sich hier, dass Sibylle Bergemann die Farbe als ein Fest der Fotografie feiert. Es lohnt sich, mitzufeiern.

Bis 14. Januar, Di.–So. 11–20 Uhr, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10