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: Die Liebe zum personalisierten Wunder

ARAM LINTZEL

Guttenberg ist seit über einer Woche weg, die Sehnsucht bleibt. Immerzu war in den Tagen vor und nach seinem Rücktritt von „Charisma“ die Rede, selbst Kritiker naturalisierten seine große „Begabung“ zu etwas, das unberührt von allen Verfehlungen im Alltag existiere.

Charisma, Begabung: Das sind nun allerdings Begriffe mit einigen theologischen Mucken. Das griechische Wort Charisma bedeutet „Gnadengabe“, entsprechend definierte Max Weber in seinem Klassiker „Wirtschaft und Gesellschaft“: „ ‚Charisma‘ solle eine als außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften begabt oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als Führer gewertet wird.“

Guttenberg, der Außeralltägliche, das personalisierte Wunder. Hinter der massenhaften Guttenberg-Liebe ist die Sehnsucht nach einer Wiederverzauberung der politischen Sphäre unschwer zu erkennen. Es ist davon auszugehen, dass diese Sehnsucht mit Guttenbergs Abgang keineswegs zur Ruhe kommt, im Gegenteil. Denn der Außeralltägliche ist derjenige, der die technokratischen Verfahren überschreitet und für seine Kräfte von den Massen gefeiert und geliebt wird. Die boulevardeske Säkularisierung der göttlichen Begabung zum Glamour banalisiert diese nicht, sondern arbeitet der politischen Zauberei gleichsam von unten entgegen.

Die psychopolitische Wirkung von Guttenbergs „Gabe“ wäre somit das hinlängliche Symptom einer postdemokratischen Situation, in der eine kritische Masse sich danach sehnt, dass die schnöde Prozesshaftigkeit des Politischen symbolisch unterbrochen wird – am liebsten durch die unsichtbare Zauberhand des Außeralltäglichen.

Ganz allein sind die Guttenberg-Massen damit nicht. Wenngleich unter völlig anderen Vorzeichen sind Transzendenzbedürfnisse auch in anderen Subsystemen schwer im Kommen: Bei Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft erscheint in diesen Tagen ein fetter Reader über „Wunder – Poetik und Politik des Staunens“, der ein „ungewöhnliches Panorama der unmittelbaren Vorgeschichte unserer wundersamen Gegenwart“ verspricht. Auf dem Cover der aktuellen Ausgabe von Spex – Das Magazin heißt es programmatisch „Hallo Jenseits“, und heute und morgen findet im Berliner Berghain das Festival „Lux Aeterna“ statt, bei dem es um die „Magie des Klangs“ und „musikalische Metaphysik“ gehen soll.

Zurück zu Guttenberg. Nun ist die übernatürliche Gabe des Charismas selbstredend nichts selbstverständlich Gegebenes, sondern eine prekäre Angelegenheit. Max Weber schrieb: „Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus objektiv richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den Anhängern, bewertet wird, kommt es an.“ Anders, zeitgemäßer ausgedrückt: Charisma ist eine Zuschreibung, keine vorgängige Essenz.

Charisma wird genauso produziert und hergestellt wie der faulste politische Kompromiss. Auch der „charismatisch Beherrschte“ ahnt das, und man sollte die inzwischen in Trauer versunkene Guttenberg-Gefolgschaft nicht für dümmer halten, als sie ist. Ein bisschen vulgär-dekonstruktivistisches Alltagswissen hat schließlich jeder.

Und so drängt sich womöglich eine ganz andere Erklärung für die massenhafte Guttenberg-Liebe auf. Wurde/wird er vielleicht einfach deshalb so verehrt, weil er das am besten konnte, was in der Neuen Ökonomie alle können müssen? Konnten sich an ihm – dem Virtuosen der performativen Charisma-Produktion – all diejenigen aufrichten, die im neokapitalistischen Alltag einen guten Auftritt hinlegen müssen, um ihre Geldgeber zu verzaubern?

Nicht zufällig sind Bücher mit Titeln wie „Charisma. Beruflichen und privaten Erfolg durch Persönlichkeit“ oder „Charisma-Coaching: von der Ausstrahlungskraft zur Anziehungskraft“ Legion. Sie leiten zur effizienten Gefühlsarbeit an. Guttenberg dürfte sich diesen Quellen der Zuneigung bewusst gewesen sein, als er im Zusammenhang mit seiner Doktorarbeit von „Überforderung“ sprach und beim Rücktritt sagte, er sei am Ende seiner Kräfte. Es inszenierte sich ein „erschöpftes Selbst“ (Alain Ehrenberg), in dessen postcharismatischer Erschlaffung sich die vom alltäglichen Performancedruck Gebeugten ein letztes Mal spiegeln durften.

■ Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist in Berlin