Die Bedürftigkeit des Herrn Ziegler

AUS LEIPZIGBARBARA BOLLWAHN

Es ist ein kleines Wort. Gerade einmal neun Buchstaben lang. Doch seine Bedeutung ist groß und irreführend: bedürftig. Es gibt Bedürftige, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Es gibt Pflegebedürftige, die Betreuung brauchen. Gesetze regeln ihre Ansprüche. Doch es gibt auch eine Bedürftigkeit, die sich nicht an Einkommen, Paragrafen oder Pflegestufen messen lässt. Eine, die mit Würde zu tun hat.

Die Bedürftigkeit des Heinz Ziegler zum Beispiel. Der Leipziger ist 75 Jahre alt und bewohnt eine Zweieinhalbzimmerwohnung in Gohlis-Nord, einer ruhigen Wohngegend. Er hat sich ordentlich eingerichtet zwischen beigefarbener Couchgarnitur, Schrankwand, Deckchen aus Bast und Blumen aus Plastik, den gedruckten Erinnerungen von Gorbatschow, den Memoiren von Churchill, dem Leben von Reich-Ranicki, Briefen von Friedrich dem Großen bis hin zu Falladas „Jeder stirbt für sich allein“. Ein weißer Plüschhund auf dem Sofa erinnert an den Wunsch seiner vor fünf Jahren verstorbenen Frau nach einem echten Hund. Manchmal macht ihm inzwischen der hohe Blutdruck zu schaffen, ansonsten ist er fit. Er sieht aus, als habe er gerade erst das Rentenalter erreicht. Die grauen Haare hat er sorgfältig von rechts nach links gescheitelt, sein Hemd ist pikobello gebügelt. Er bietet Mon Cherie und Mineralwasser an. Heinz Ziegler, der gelernte Elektriker und Maschinenbauschlosser, hat sein Auskommen. Er lebt von 1.014 Euro Rente, hinzu kommen 349 Euro Witwerrente. Er könnte zufrieden sein.

Wenn da nicht diese Opferrente wäre. „Es ist ein großer Erfolg von CDU und CSU“, verkündete die Unionsbundestagsfraktion Ende Januar, „dass mit dem Koalitionspartner SPD die Schaffung einer Opferpension verhandelt werden konnte.“ Gemeint ist ein Gesetzentwurf für das dritte SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Damit sollen Opfer politischer Verfolgung in der DDR „eine nicht nur symbolische Anerkennung der erlittenen Nachteile und Schädigungen“ bekommen, sondern jeden Monat 250 Euro Opferpension. Der Betrag orientiert sich an den 500 Mark Rente für Opfer des Nationalsozialismus, die vor 16 Jahren beschlossen wurde. Er ist also gleich. Trotzdem gibt es einen gravierenden Unterschied: Die Rente der NS-Opfer wird unabhängig vom Einkommen gezahlt.

Diejenigen aber, die gegen die DDR waren, die aufbegehrt, für Freiheit gekämpft oder sich in einen Klassenfeind verliebt haben, müssen nicht nur mindestens sechs Monate eingesperrt gewesen sein, um die Rente zu bekommen. Sie müssen außerdem in ihrer wirtschaftlichen Lage „besonders beeinträchtigt“ sein, selbst wenn sie zehn oder zwanzig Jahre in Haft waren.

Als besonders beeinträchtigt gelten Alleinstehende, deren monatliches Einkommen nicht 1.035 Euro übersteigt, das Dreifache von dem, was ein Hartz-IV-Empfänger bekommt. Für Verheiratete gilt der vierfache Grundbetrag, 1.380 Euro.

„Erbärmlich“ findet das Heinz Ziegler. Fünf Jahre seines Lebens hat er im Gefängnis verbracht, Todesängste ausgestanden, Hunger gelitten, gefroren, im Fliegerschrott geschuftet, einen Teil seiner Unbeschwertheit und Fröhlichkeit verloren. Weil er kurz nach der Gründung der DDR seine Meinung gesagt hat, weil es ihm nicht gepasst hat, dass ihm Wilhelm Pieck als Staatspräsident vor die Nase gesetzt wurde, weil wieder junge Menschen in Uniformen marschierten. Heinz Ziegler wollte nicht, dass die DDR „als zusätzliche russische Republik vereinnahmt wird“. Deshalb hat er zwei Jahre lang regelmäßig Flugblätter aus Westberlin geholt, „gegen das Regime in der deutschen Sowjetzone“, und heimlich in Leipzig verteilt. Manchmal hat er sich einen Spaß daraus gemacht, nachts durch den Park zu laufen und „Es lebe Adenauer!“ zu rufen.

An einem Wochenende im Frühjahr 1952 fingen ihn Polizisten vor der Haustür ab und nahmen ihn mit. Er wurde verhört, nach seinen Freunden und politischen Einstellungen befragt. Nach acht Wochen konnte er nicht mehr. Der damals kaum 20-Jährige versuchte sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufzuschneiden. „Wenn es geklappt hätte, wäre mir einiges erspart geblieben“, sagt er. „Oder auch nicht.“

Seine Vergehen waren für Heinz Ziegler „eine Verhohnepiepelung der DDR“, wie er in seinem sächsischen Singsang sagt. Für das Gericht Boykott- und Kriegshetze. Er wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt. Im Dezember 1956 kam er im Rahmen einer größeren Entlassungsaktion nach knapp fünf Jahren frei.

Es hat lange gedauert, bis die Politik einen Kompromiss für die Opfer der SED-Diktatur gefunden hat: 51 Jahre nach Zieglers Entlassung, 18 Jahre nach dem Ende des Systems, das er bekämpft hat, 16 Jahre nach seiner Rehabilitierung und Haftentschädigung und in einer Zeit, in der Mitglieder der alten Nomenklatura längst Sonderrenten erstritten haben und selbstbewusst in der Öffentlichkeit auftreten. Heinz Ziegler, der mit seinem Einkommen 328 Euro über der Bemessungsgrenze liegt, meint: „Das ist zum piepen.“ „Poplig.“ „Schoflig.“ Nach einer Denkpause holt er zu einem längeren Satz aus. „Und wenn ich sehe, wie damalige Täter entlohnt werden, schwillt mir der Kamm.“ Die Verbände von Opfern politischer Verfolgung empfinden das geplante Gesetz denn auch als „Demütigung“ und „Gnadenakt“, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen sprechen von einem „beschämenden Feigenblatt“.

Ziegler nimmt für sich nicht in Anspruch, ein Held gewesen zu sein. Ihm passte die Entwicklung in der noch jungen DDR nicht und er glaubte etwas dagegen tun zu müssen. Aber Heinz Ziegler denkt auch an die, die viel länger in Haft waren, gesundheitliche oder psychische Folgen davongetragen haben, an denen sie bis heute leiden oder an denen sie zerbrochen sind. Ganz zu schweigen von denen, „die es am meisten verdient haben und nicht mehr leben“.

Aber sprechen kann er nur für sich und seine Haftzeit in Torgau. Das tut er sehr detailliert und mit einem beeindruckenden Gedächtnis. Um aufzuzählen, was ihm zum Haftantritt ausgehändigt wurde, nimmt er die Finger zur Hilfe: blau-weiß gestreifte Unterwäsche, eine Russenbluse, eine Stiefelhose der russischen Armee, Holzpantinen, ein Paar Fußlappen, drei Decken, eine Emailleschüssel, ein Alulöffel, eine Kappe. Er erzählt von der Kälte, dem Hunger, den Flöhen aus den Filzdichtungen der Flugzeuge, die er auseinandernehmen musste, um Kupfer, Aluminium und Eisen für die Volkswirtschaft zu gewinnen.

Nur einmal kommt er kurz durcheinander. Bei der Erinnerung an seine Haftkameraden, die sich eine neun Quadratmeter große Zelle teilen mussten: „Ein Berliner, der Chemie studiert hat, zu dem ich noch heute Verbindung habe. Ein Sudetendeutscher, ein höherer Beamter. Ein ehemaliger Unterleutnant vom Wachbataillon ‚Wilhelm Pieck‘. Ein Dachdeckermeister aus dem Eichsfeld.“ Dann fragt er mehr zu sich selbst: „Wer war bloß der Fünfte?“ Seine Erinnerung verlässt ihn ausgerechnet bei sich selbst.

Nach seiner Entlassung ging er zurück in den Transportanlagenbetrieb in Leipzig, in dem er vorher gearbeitet hatte. Er blieb in Leipzig, wollte die Schwester seiner Großmuter nicht allein lassen, bei der er nach dem frühen Tod der Mutter aufgewachsen war. Wenige Jahre später heiratete er, dann kam der 13. August 1961, der Mauerbau. Gern hätte er sich in den DDR-Jahren zum Maschinenbauingenieur fortgebildet. Doch Heinz Ziegler hatte es aufgegeben, Klimmzüge zu machen.

Für den Beauftragten für die neuen Länder, Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee (SPD), ist der Gesetzentwurf „ein großer Schritt nach vorn“, mit dem ein Versprechen des Koalitionsvertrages eingelöst werde. Für Arnold Vaatz, den stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsbundestagsfraktion und Sprecher der ostdeutschen CDU-Bundestagsabgeordneten, ist es eher ein kleiner Schritt. Ihm wäre es lieber gewesen, auf eine Bedürftigkeitsprüfung zu verzichten und Ehepaare nicht zusammen zu veranlagen. Über den jetzigen Kompromiss sagt er: „Entweder wird weiterhin nichts gemacht oder es gibt eine Minimallösung.“ Es ist kein Geheimnis, dass es nicht wenige Bundestagsabgeordnete gibt, die im Stillen der Meinung sind, dass eine Opferpension nicht nötig sei oder ohnehin zu spät komme. Offen sagt das natürlich niemand.

Derzeit ist noch unklar, woher die 50 Millionen Euro für die Opferpension kommen sollen. Doch das bereitet Arnold Vaatz kein Kopfzerbrechen. „Das ist nicht viel“, sagt er, „ich gehe davon aus, dass wir das Geld haben werden.“ Und: „Ich bin absolut sicher, dass das Gesetz vor der Sommerpause verabschiedet wird.“ Vaatz rechnet damit, dass ein „erheblicher Anteil“ der Anspruchsberechtigten sogenannte Differenzzahlungen bekommen wird, wie sie in dem Gesetzentwurf festgeschrieben sind. Wer also 50 Euro über der Bemessungsgrenze liegt, bekäme 200 Euro. Bei 100 Euro würde sich die Pension auf 150 Euro reduzieren. Wer 249 Euro zu viel eigenes Einkommen hat, dem stünde ein Euro im Monat zu. Alle anderen gehen ganz leer aus. Dabei heißt es in dem Gesetzentwurf zu der Opferpension, die früher Ehrenpension genannt wurde: „Sie ist sichtbarer Ausdruck für den besonderen Wert, den unsere Gesellschaft dem Handeln von Menschen beimisst, die sich gegen die Diktatur der SED gewehrt und um den Preis erheblicher persönlicher und sozialer Nachteile und unter Einsatz ihres Lebens für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben.“

Die Erinnerungen von Heinz Ziegler an seine Haftzeit sind mittlerweile etwas verblasst. „Aber sie sind immer da.“ Albträume hat er nicht mehr so oft wie früher. Beim Erzählen kämpft er, der die ganze Zeit so gefasst war, plötzlich mit den Tränen. Er erinnert sich daran, wie ihn seine Frau manchmal in der Nacht aus den bösen Träumen erlöst hat. Wird der jetzige Gesetzentwurf, so wie er ist, verabschiedet, würde er wegen der Witwerrente keinen einzigen Euro Opferpension bekommen. Heinz Ziegler will nicht bedürftig sein, und er ist es doch. Er ist bedürftig nach Würde und Anerkennung. So aber macht die Gerechtigkeit einen Bogen um ihn.