Erst der Jubel, dann der Hunger

HEIMATFRONT Wie machte sich der Erste Weltkrieg in Berlin bemerkbar? Eine Chronologie

„Die Klassengegensätze scheinen fast geschwunden“

DER BERLINER POLIZEIPRÄSIDENT TRAUGOTT VON JAGOW

1914, 28. Juni: Nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo geben zahlreiche Zeitungen ein Extrablatt heraus.

Juli: Es ist ein heißer Sommer in der Reichshauptstadt. Die Freibäder und Seen sind voll. Dass Berlin Wien bei den Kriegsplänen gegen Serbien freie Hand gegeben hat, wissen die Berliner nicht.

6. Juli: Kaiser Wilhelm II. unternimmt seine Sommerkreuzfahrt nach Norwegen.

24. Juli: Einen Tag nach dem Ultimatum Österreichs an Serbien kommt es zu spontanen Versammlungen vor dem Stadtschloss.

25. Juli: Der Vorwärts ruft in seiner Samstagsausgabe zu Großkundgebungen gegen den Krieg für den 28. Juli auf.

26. Juli: Der Kaiser bricht seinen Urlaub ab und kehrt nach Berlin zurück.

28. Juli: Polizeipräsident Traugott von Jagow verbietet die Antikriegsdemonstrationen der SPD. Es kommen dennoch fast 100.000 Kriegsgegner in die Innenstadt.

30. Juli: Ein Artikel der Morgenpost gegen den Krieg fällt der Zensur zum Opfer.

1. August: Deutsche Generalmobilmachung und Kriegserklärung an Russland. Der Kaiser spricht vor einer jubelnden Masse am Schlossplatz und macht sein Angebot zum Burgfrieden. Ab jetzt gibt es nur noch Deutsche und keine Parteien mehr. Gleichzeitig treten das Kriegsrecht und die Militärzensur in Kraft. Vor den Kasernen drängeln sich die Freiwilligen.

2. August: Einmarsch Deutschlands in Luxemburg. Einen Tag später wird das neutrale Belgien besetzt.

4. August: Die SPD-Reichstagsfraktion billigt die Kriegskredite. In der Stunde der höchsten Not dürfe man das Vaterland nicht im Stich lassen, heißt es zur Begründung. Großbritannien erklärt Deutschland den Krieg. Tumulte vor der britischen Botschaft. Hetzjagden gegen vermeintliche Spione.

5. August: Der Kaiser ruft zu einem „außerordentlichen Bettag“ der Kirche auf. Kriegspredigten in zahlreichen Kirchen.

22. August: Der Polizeipräsident stellt fest: „Die Klassengegensätze scheinen fast geschwunden.“ Neue Welle Freiwilliger.

30. August: Nach dem deutschen Sieg in der Schlacht von Tannenberg über Russland strömen in Berlin Tausende zu Jubelkundgebungen zusammen.

12. September: Nach dem Sieg Frankreichs in der ersten Marneschlacht wird aus dem Bewegungskrieg ein Stellungskrieg. Die Euphorie verschwindet. Nüchternheit macht sich breit.

1915, 1. Februar: Nach der alliierten Seeblockade gegen Deutschland werden die Lebensmittel knapp. Beschlagnahme aller Vorräte an Getreide. Ausgabe von Brotkarten.

Oktober: Erste Hungerrevolten. Zahlreiche Lebensmittelgeschäfte werden geplündert.

1916, 26. Januar: Die Kartoffelpreise steigen um 45 Prozent. Neue Revolten. Der Ruf nach Frieden wird lauter.

1916/1917: Hunderttausende Tote im „Steckrübenwinter“ in ganz Deutschland.

1917, 8. April: Spaltung der Sozialdemokratie und Gründung der USPD. Auch Hugo Haase, der Kriegsgegner, der sich 1914 nicht durchsetzen konnte, tritt ihr bei – ebenso wie der Spartakusbund um Rosa Luxemburg.

1918, 9. November: Revolution. Karl Liebknecht und Philipp Scheidemann rufen unabhängig voneinander die Republik aus.

1919, 15. Januar: Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts und Gegenrevolution. UWE RADA

■ Unter Verwendung des Buches „Heimatfront“ von Sven Felix Kellerhoff, Quadriga Verlag, 19,99 Euro