Neue Ufer unter den Füßen

Seit zehn Jahren bringt „Whirlschool“ die SchülerInnen zum Tanzen. Das Bremer Projekt gilt als bundesweit vorbildlich, weil Kinder und Jugendliche etwas weithin Unbekanntes erleben – zeitgenössischen Tanz. Neben neuen Bewegungsmustern lernen sie sogar, ihre Geschlechterrollen zu vergessen

VON HENNING BLEYL

Die Modepuppe trägt ein weißes Tutu, auf dem Tisch wartet „Dein Auftritt, Ballerina“ – ein Buch von „Cindy“ über den „Traum vom Tanzen“. Auch der Ratgeber „Der passende Spitzenschuh“ liegt bereit, mit anderen Worten: Die meisten Viertklässler, die sich erwartungsvoll im Umkleideraum einer Tanzschule in der Bremer Innenstadt drängeln, befinden sich in einer für sie reichlich fremden Welt. Sie bleibt auch fremd. Denn was die Neun- und Zehnjährigen auf dem Schwingboden des Studios in Bewegung bringen soll, ist zeitgenössischer Tanz.

Die Grundschule Robinsbalje macht mit bei „Whirlschool“. Diese Chance haben jedes Jahr sechs oder sieben Bremer Schulen: Profis kommen in den Unterricht, erarbeiten mit den SchülerInnen eigene Choreografien und führen sie dann in großem Rahmen auf. Man könnte also auch sagen: Seit zehn Jahren ist Whirlschool in Bremen das, was „Rhythm is it“ seit dem gleichnamigen Kinohit deutschlandweit bedeutet – die Erkenntnis, dass sich SchülerInnen für ein völlig neues Bewegungsrepertoire und hartes Training begeistern können, wenn nur der richtige Drive dahinter steht.

Für das mit dem Drive ist im Tanzstudio – die Schule ist dorthin ausgewichen, weil ihre Aula renoviert wird – Alexandra Benthien zuständig. Sie ist nicht so offensiv autoritär wie Royston Maldoom. Aber erstens muss sie auch keine Massenchoreografien kreieren wie der „Rhythm is it“-Matador. Und zweitens geht es auch anders: Benthien hat die 30 SchülerInnen in drei Gruppen aufgeteilt, die ersten liegen schon auf dem Rücken und lassen Gliedmaßen in die Höhe steigen.

„Eigentlich sieht man uns nicht“, erklärt ein Mädchen hinterher ihren MitschülerInnen – das gegenseitige Beobachten und Beschreiben gehört zum Prozess. „Seid ihr Gespenster?“, versucht ein anderer zu verstehen. Das Stichwort „Geisterstunde“ zieht eine aufgeregte Diskussion nach sich. Die SchülerInnen kommen aus einem eher abgelegenen Stadtteil und wissen: Die Straßenbahn fährt nur bis um elf. „Wie kommen wir denn nach Mitternacht nach Hause?“ Nachdem die Differenz zwischen Echt- und Bühnenzeit geklärt ist, macht die Trainerin eine scheinbar harmlose Bemerkung: „Eure Eltern können Euch doch nach der Aufführung nach Hause fahren, die kommen doch zum Zuschauen.“ „Meine nicht“, antworten erschreckend viele.

Whirlschool geht bewusst in alle Stadtteile und Schulformen, mehr als 1.200 Kinder und Jugendliche sind auf diese Weise bisher erreicht worden. Was sind die üblichen Einstiegsprobleme? „Barfuß ist echt eklig“, befand eine ältere Whirlschool-Teilnehmerin, die Kinder im Studio haben jetzt andere Sorgen: „Der Boden muss rutschig sein“, moniert ein Junge, „sonst kommt man nicht weit genug.“ In der Tat werden er und seine KlassenkameradInnen eine große Bühne zu füllen haben: Sie üben für den gemeinsamen Whirlschool-2007-Auftritt in der Kesselhalle des „Schlachthof“ – und der hat immerhin 600 Plätze. Eine andere – erste – Klasse probt unter dem Titel „Mein Name sei Tanz“ kleine Kreationen mit frei kombinierbaren Bewegungsmustern, eine Zwölfte beschäftigt sich mit Tabus – „welche möchte ich brechen, welche mir bewahren?“. Die breite Altersstreuung der teilnehmenden Klassen ist Konzept, sagt Organisatorin Angelika Wunsch vom Bremer „Tanzwerk“: „Die Großen erleben bei den kleinen Schülern, was für eine enorme Lebendigkeit und Präsenz sie haben. Das müssen sich die Jugendlichen oft viel härter wieder erarbeiten.“

Als Einzelne benotet zu werden, das kennen die SchülerInnen – hier müssen sie nun zusammen funktionieren. Was hat ihnen der zeitgenössischen Tanz außerdem – und außer dem Spaß – zu bieten? Das Thema Gleichberechtigung. Ballett ist was für Mädchen, Street- und Breakdance gilt tendenziell als Jungsdomäne. Da hilft es, dass zeitgenössischer Tanz für alle neu ist. Mittlerweile bekommt Whirlschool viermal so viele Bewerbungen, wie es berücksichtigen kann, und Joachim Reiss vom Bundesverband Darstellendes Spiel hofft, „dass auch in anderen Bundesländern der Modellcharakter dieses Projekts erkannt wird“.

Jetzt ist eine Jungsgruppe dran: Sie bauen den „Baum“, einer schiebt sich vor den anderen. Starre, dann der Sturm durch die Raumdiagonale und wieder Stopp – ein Standbild entsteht. Zum Wiederholen der nächsten Sequenz gibt Benthien Anweisungen: „Macht langsam genug“, sagt sie, „damit ihr euch gemeinsam erinnern könnt.“ 13 von 16 Doppelstunden haben die SchülerInnen schon hinter sich, der näher rückende Auftritt wirft jede Menge Fragen auf: „Was ist, wenn wir unsere Bewegungen vergessen?“ Oder: „Was kosten die Karten?“ Und: „Muss mein kleiner Bruder auch bezahlen?“

Von der Zusammensetzung her sei es eine sehr schwierige Klasse, sagt die Lehrerin. Es gebe viele „instabile familiäre Situationen“, Kinder mit Förderbedarf. „Hoffentlich kippt das nicht“, habe sie bei Beginn des Tanzprojekts gedacht. Aber derzeit sei das Gruppengefühl in der Klasse prima. Und ein Zehnjähriger sagt schlicht: „Ich hab’ befürchtet, dass ich das nicht kann – aber es geht immer besser.“