Die unentdeckten Tiefen des Internets

Um Amokläufen und Anschlägen zuvorzukommen, soll das Internet besser überwacht werden. Doch Fahnder fehlen

BERLIN taz ■ Nach dem Amoklauf an der Schule von Emsdetten verlangen Sicherheitspolitiker aller Parteien eine stärkere Überwachung des Internets. Doch Internetexperten und die Gewerkschaft der Polizei warnen vor zu hohen Erwartungen. In ihren Reihen beschäftigt die Polizei rund 300 Internetfahnder, 80 Prozent von ihnen sind gebunden und arbeiten im Bereich der Kinderpornografie. Und obwohl sich das Internet nahezu täglich verändert, ist kaum einer der Fahnder seit Ausbildungsende fortgebildet worden.

Dies erklärte Rolf Kaßauer vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) am Mittwoch auf einer Veranstaltung seiner Gewerkschaft in Berlin. Zudem arbeiteten die Fahnder durchweg mit veralteter Technik.

Als größte Herausforderung für die Fahnder sieht der IT-Sicherheitsexperte Bert Weingarten, dass diese vor allem im „Deep Internet“ ermitteln müssten: Wie bei einem Eisberg befinde sich der größte Teil der im Netz kursierenden Daten unter der allen zugänglichen Oberfläche. Keine konventionelle Suchmaschine erreicht diesen Bereich. Hier tummeln sich die wirklich gefährlichen terroristischen Websites, hier wird (Kinder-)Pornografie gehandelt, wird staatliche und private Wirtschaftsspionage betrieben.

Bereits vor drei Jahren entwickelte Weingarten den ersten Datenfilter gegen Anleitungen zum Bombenbau. Seit Oktober gibt es auch ein vollautomatisches Programm zur Interfahndung, welches sogar gerichtsfeste Onlinebeweissicherung liefert. Bei der BDK-Veranstaltung am Mittwoch konnte Weingarten bereits Ergebnisse präsentieren. Im September 2005 fanden seine Suchmaschinen im „Deep Internet“ erstmals eine detaillierte Anleitung für Flugzeugattentate mit Flüssigsprengstoff. Doch deutsche Sicherheitsbehörden interessierten sich damals nicht dafür.

Im sofort informierten Bundesinnenministerium unter Otto Schily (SPD) tat man seine Entdeckung als „Unfug“ ab. Weder deutsche noch ausländische Sicherheitsbehörden wurden informiert. Vor rund einem viertel Jahr haben britische Sicherheitsbeamte ähnliche Anschlagsplanungen aufgedeckt.

Im letzten Jahr entdeckten die elektronischen Netzfahnder eine in Deutschland produzierte Website türkischer Extremisten, über die in Europa und Kanada muslimische Frauen für Selbstmordattentate gesucht wurden. Eine so geworbene Frau aus Belgien, so wies Weingarten nach, verübte einen Anschlag im Nahen Osten. Der Server wurde geschlossen, die Ausreise einer Frau aus Deutschland konnte verhindert werden. Aber „die Staatsanwaltschaft von einer akuten Gefahr zu überzeugen, war äußerst schwierig“, sagt Weingarten. Seit zwei Wochen ist der Server nun wieder da, und kein deutscher Polizist wisse davon.

Ähnlich sieht es offenbar auch beim Verfassungsschutz aus. „Kennen wir schon“, hieß es, als dort terroristische Webadressen präsentiert wurden. Wie sich herausstellte, kannten die Verfassungsschutzmitarbeiter nur die Spitze des Eisberges, „das, was man sehen darf“ – vom Unsichtbaren hatten sie keine Ahnung.

OTTO DIEDERICHS