Friedrichshain ist wie Hanoi

Viele Bauwerke in Berlin haben für Migranten eine besondere Bedeutung – die Mehrheitsgesellschaft weiß davon nichts. Studierende der TU haben zahlreiche solcher Gedenkorte aufgespürt. Sie werden ab heute in einer Ausstellung vorgestellt

Von Marina Mai

Für die meisten Passanten ist es ein ganz normaler Balkon. Dass immer wieder Berliner russischer Herkunft und Touristen vor dem Haus Trautenaustraße 9 in Wilmersdorf verweilen und darauf starren, liegt daran, dass der Balkon ihnen eine Geschichte erzählen kann. Denn für die russische Lyrikerin Marina Zwetajewa war die Adresse die erste Exilstation 1922. Und auf dem Balkon trank sie Tee mit ihrem Dichterkollegen Andrei Bely. Hier schrieb sie Gedichte und flammende Liebesbriefe an den späteren Nobelpreisträger Boris Pasternack. Mit Ilja Ehrenburg und Vladimir Nabukov wohnten weitere russische Literaten in dem Haus, damals eine Pension.

Es gibt Balkone, Gebäude, Friedhöfe und Denkmäler, an denen laufen Berliner deutscher Herkunft achtlos vorbei. Für Migranten und Touristen sind diese Orte hingegen mit Geschichten verbunden. Solche Geschichten sammeln derzeit Studierende des Instituts für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität (TU) in ihrem Projekt „Das fremde Erbe“ unter Leitung von Denkmalpflege-Professorin Gabi Dolff-Bonekämper.

Die Studierenden haben sich vier ethnische Gruppen – Türken, Vietnamesen, Franzosen und russlanddeutsche Spätaussiedler – ausgesucht und einige Vertreter dieser Gruppen nach ihren symbolischen Orten in Berlin gefragt. Die Auswahl war nicht immer ganz einfach und schon gar nicht repräsentativ. Dennoch hat Tutorin Gülsah Stapel zahlreiche Denkmäler entdeckt, die sie bisher nicht kannte: ein Denkmal für die Deportation der Russlanddeutschen nach Sibirien etwa auf dem Parkfriedhof Marzahn. Das haben Russlanddeutsche vor wenigen Jahren aus Spenden finanziert, weil sie einen Ort brauchten, mit dem sie an ihre in der Deportation umgekommenen Verwandten erinnern konnten.

„Bevor ich das Projekt begonnen hatte, bin ich auch am Kottbuser Tor immer wieder an einem Denkmal vorbeigelaufen, ohne es zu bemerken“, sagt Projektassistentin Biagia Bongiorno. Ein gemeißelter Stein erinnert dort an den von den Grauen Wölfen 1980 ermordeten türkischen Gewerkschafter und Lehrer Celalettin Kesim. Türkische Berliner haben dieses Denkmal hingegen im Blick. Sie legen hier regelmäßig Blumen nieder.

„Wir wollen mit unserem Projekt diese Orte der Erinnerung und der Identität der einzelnen ethnischen Gruppe in den öffentlichen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft holen“, sagt Gabi Dolff-Bonekämper. Das trage zur Integration der Migranten bei. Auf lange Sicht, davon ist die Professorin überzeugt, nützt es auch dem Denkmalschutz. Der ist von Kürzungen öffentlicher Gelder stark betroffen. „Deshalb ist es wichtig, dass die Gesellschaft Denkmalschutz stärker als ihre Aufgabe begreift.“

Doch das Projekt will noch mehr: Immer mehr Kinder und Jugendliche haben Migrationshintergrund, 40 Prozent der Teilnehmer an dem Projekt sind Migranten – für Studierende der TU ein hoher Anteil. Das steinerne Erbe der Stadt und das Erbe ihrer Familien sind nicht dasselbe. Das Studienprojekt möchte beide verknüpfen, die Geschichten der Migranten bekannt machen und sie Teil der baulichen Geschichte Berlins werden lassen.

Völlig erstaunt war Gülsah Stapel etwa, als ihr Vietnamesen erzählten, dass sie ihren Gästen schmale Gründerzeithäuser in Friedrichshain zeigen. Begründung: Die erinnerten sie an die Hanoier Altstadt. „Viele Spätaussiedler fühlen sich in Marzahn so wohl, weil die Hochhäuser sie an ihre alte Heimat in Kasachstan erinnern“, hat die türkischstämmige Studentin erfahren. So entstehen durch Migranten neue Geschichten über bekannte Orte. Durch ihre Studien hat Stapel den unter Migranten aus dem Westteil oft als ausländerfeindliche Hochburg gefürchteten Bezirk lieben gelernt. „In Marzahn ist der Himmel so weit“, schwärmt sie. „Da denke ich oft, hier kann das Meer nicht mehr weit sein“, schwärmt sie.

Heute Abend stellen sie und ihre Mitstreiter ihr Projekt um 18 Uhr bei einer Podiumsdiskussion im Grünen Salon der Volksbühne vor. Anschließend kann man die gefundenen Geschichten in einer Ausstellung im Kino Babylon gegenüber besichtigen.

Die Ausstellung ist vom 17. bis 25. Februar jeden Tag von 16 bis 21 Uhr geöffnet. www.dasfremdeerbe.de