Die Angst vor dem Verschwinden

FOTOGRAFIE Bunte Bilder aus einer Zeit, die uns sonst meist nur in Schwarz-Weiß begegnet: Die Ausstellung „Die Welt um 1914. Farbfotografie vor dem Großen Krieg“ im Martin-Gropius-Bau zeigt Aufnahmen aus vielen, damals sehr exotischen Ländern

Nicht einmal die eigenen Länder waren den meisten Europäern durch Reisen geläufig

VON RONALD BERG

Vor dem großen Weltenbrand von 1914 war die Welt schwarzweiß, dachte man bisher. Nun wird man eines Besseren belehrt. Die Welt um 1914 war bunt, und es gibt dafür Zeugen und Belege: Albert Kahn, Sergei M. Prokudin-Gorskii und Adolf Miethe – ein Franzose, ein Russe und ein Deutscher – haben die Welt bereits vor dem Großen Krieg in Farbe fotografiert. Ihren Fotografien widmet sich eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau.

Zu sehen sind: Reitelefanten vor einem Königspalast in Indien, Leprakranke in Vietnam, ein Hohepriester im Palast des himmlischen Friedens in Peking, Nomaden der mongolischen Steppe, prächtig gewandete Frauen auf Korfu, Tabakträger in Albanien, eine mit Kindern belebte Straße in Cornwall, auch die ägyptischen Pyramiden nebst Sphinx, ebenso Fischverkäuferinnen in Irland, dazu deutsche Landschaften und russische Fernen mit Holzflößen auf der Wolga und Klöstern in Sibirien.

Die Welt wanderte damals erstmals in Farbe ins Fotoarchiv. Die ersten Farbverfahren für die Fotografie stammen aus dieser Zeit. Und Albert Kahn, Sergei M. Prokudin-Gorskii und Adolf Miethe waren nicht eigentlich Fotografen, sie waren Initiatoren und Propagandisten für das neue Medium der Farbfotografie.

Der Anlass für die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau ist der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er markiert die Schwelle zwischen einer traditionellen Welt und einer alles gleichmachenden Moderne. So zumindest lautet die implizierte Botschaft dieser vom Rheinischen Landesmuseum in Bonn zusammengestellten Auswahl von Bildern. Das entspricht auch der damaligen Vorstellung des Bankiers Albert Kahn, der eigens Expeditionen zur Erstellung dieser Reisefotos losgeschickt hatte, weil er befürchtete, dass die kulturelle Vielfalt auf der Erde bald (ver-)schwinden würde. Der Erste Weltkrieg, der erste Krieg unter Beteiligung der halben Welt und der erste unter intensiver Inanspruchnahme von technischen Medien wie Fotografie und Funk, sollte diese Entwicklung zum Global Village katalysieren.

Der Kamerablick auf die Welt von Irland bis China erfasst tatsächlich etwas Verlorenes. Man betrachte nur die bunte Vielfalt von Kleidung bzw. Trachten auf diesen Fotos: die handgewebten Röcke auf dem Balkan, die merkwürdigen Hüte der Amtsträger in der Mongolei oder die fast psychedelisch flackernde Robe des Beamten in Buchara. Was würde man heute davon noch antreffen?

Einen Vergleich über die Verhältnisse vor und nach dem Ersten Weltkrieg lässt die Ausstellung aber nicht zu, da fast alle der 200 Farbaufnahmen der Schau sich auf die Vorkriegsperiode konzentrieren, nur einige wenige stammen aus dem Krieg selbst. Der Besucher des Gropius-Baus wird das Abbild der Welt vor hundert Jahren also mit dem Bild vergleichen, das ihm heute aus allen Kanälen entgegenspringt. Frauen in bunter Tracht und Männer in farbenfrohen Uniformen begegnen einem heute allenfalls als Touristennepp.

Das war vor 1914 durchaus nicht der Fall. Denn nicht einmal die eigenen Länder waren den meisten Europäern durch Reisen geläufig, geschweige denn die Gefilde des Balkans oder gar des fernen Chinas. Dorthin aufzubrechen bedurfte eines reichen Bankiers wie Albert Kahn. Der Philanthrop wollte etwas Sinnvolles mit seinem Geld anfangen. Er gründete über 20 Stiftungen, vergab Reisestipendien und rüstete Expeditionen mit Automobil, Kamera und den gerade erfundenen Autochromplatten als Aufnahmematerial aus. Die von den Reisen zurückgebrachten Farbpositive wurden unter dem Namen „Les Archives de la planète“ in Kahns Villa bei Paris gesammelt und manchmal auch vor erlauchtem Publikum aus Politik, Herrscherhäusern und Wissenschaft projiziert.

Kahns Hoffnung war, dass die Kenntnis über die Welt, ihre Völker und Gebräuche bei den einflussreichen Kreisen einer friedenserhaltenden Maßnahme gleichkäme. Da hat er sich bekanntlich getäuscht. Trotzdem verfolgte Kahn die Vervollständigung seines Archivs bis 1930. Der Verlust seines Vermögens in der Weltwirtschaftskrise ließ weitere Aktivitäten nicht zu. Heute existiert ein Museum in Kahns Villa in Boulogne-sur-Seine, das mit der Aufarbeitung der insgesamt mehr als 72.000 Bilder und 160 Kilometer Filmmaterial noch lange nicht fertig ist.

Im Gegensatz zum jüdischen Franzosen Kahn beschränkte sich der deutsche Chemieprofessor Adolf Miethe, der ein eigenes Verfahren der Dreifarbenfotografie erfunden hatte, auf Motive aus eigenen Landen. Dies gilt auch für den russischen Adligen Prokudin-Gorskii, der ursprünglich bei Miethe assistiert hatte und mithilfe von dessen Verfahren im Auftrag des Zaren das russische Riesenreich in Farbe aufnahm.

Miethe und Prokudin-Gorskii fotografierten die üblichen Veduten, also Stadtansichten, die noch den Regeln der Landschaftsmalerei folgten. Kahns angestellte Fotografen hingegen waren Dokumentaristen, die Direktiven vom wissenschaftlichen Leiter seines Archivs ausführten. Das macht diese Aufnahmen heute angenehmer anzuschauen, vor allem gegenüber denjenigen Farbaufnahmen, die zu Propagandazwecken im Ersten Weltkrieg positive Stimmung verbreiten sollten. Allerdings unterstützen Farbpostkarten etwa von nationalen Monumenten auch schon vor dem Krieg die patriotische Gesinnung. Auch solche Einsatzgebiete der Farbfototechnik sind im Gropius-Bau zum Vergleich zu sehen.

Die frühen Farbtechniken haben nach dem Ersten Weltkrieg keine große Wirkung mehr entfaltet. Ihre Domäne hatte sie zuvor bei den ambitionierten Amateuren und in einigen publizierten Mappenwerken. Dazu gibt es in der Ausstellung einige hübsche Beispiele. Auch das Einsteckalbum der Stollwerck-Schokoladen, in dem Miethes Bilder Verbreitung fanden, ist präsent. Man darf darin sogar blättern. Das Prinzip der Dreifarbenaufnahmen lässt sich am Ende der Schau praktisch nachvollziehen, wo man in drei monochromen Farbauszügen abgebildet wird. Der Computer setzt diese dann blitzschnell in ein Farbbild um.

■ Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7. Bis 2. November